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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Endokrinologie
Leichte Schilddrüsenüberfunktion als Risikofaktor
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Bisher galten TSH-Werte von 0,4 bis 4,0 mU/l bei Erwachsenen als sicher. Neue Untersuchungsergebnisse aus den Niederlanden lassen hieran Zweifel aufkommen. An der Erasmus-Universität in Rotterdam wurden die Daten von 10 318 Einwohnern in einem Alter ab 45 Jahren ausgewertet, die im Rahmen der Rotterdam-Studie regelmässig beobachtet werden. In den
ersten neun Jahren starben 261 Teilnehmer an einem plötzlichen Herztod, der in der Regel Folge einer Herzrhythmusstörung ist. Darunter waren auffällig viele euthyreote Personen mit leichter Schilddrüsenüberfunktion. Die Studie ergab, dass Menschen mit latenter Überfunktion ein um den Faktor 2,5 erhöhtes Risiko hatten, an plötzlichem Herztod zu sterben (1). Das absolute 10-Jahres-Risiko stieg bei euthyreoten Personen mit steigenden FT4-Werten von 1 auf 4 Prozent. In weiteren Studien (2, 3) zeigte sich, dass auch das Schlaganfallrisiko erhöht ist und Menschen mit latenter Schilddrüsenüberfunktion im Alter auch häufiger an einer Demenz erkranken. Auch wenn diese Studien nicht beweisen könnten, dass eine Behandlung das Risiko der Betroffenen vermindern würde, seien
die Resultate besorgniserregend, heisst
es in einer Pressemitteilung des Berufs-
verbands Deutscher Nuklearmediziner
e.V. (BDN). Insbesondere sollten die neuen
Erkenntnisse Konsequenzen für die Be-
handlung bei Hypothyreose haben. Viele
Ärzte streben für diese Patienten einen
TSH-Wert an, der einer latenten Über-
funktion entspricht. Dazu könne nun nicht
mehr geraten werden.
BDN/RBOO
Pressemitteilung des BDN vom 15. November 2016.
1. Chaker L et al.: Thyroid function and sudden cardiac death: A prospective population-based cohort study. Circulation 2016; 134(10): 713–722.
2. Chaker L et al.: Thyroid function within the reference range and the risk of stroke: An individual participant data analysis. J Clin Endocrinol Metab 2016: jc20162255.
3. Chaker L et al.: Thyroid function and the risk of dementia: The Rotterdam Study. Neurology 2016; 87(16): 1688–1695.
Diabetes
Autofahren mit Diabetes in der Regel kein Problem
Rund 10 Prozent der Führerscheininhaber sind Diabetiker. Sowohl ein zu hoher Blutzucker als auch Hypoglykämien könnten gefährlich werden. Zurzeit gibt es aber keine Daten, die ein relevant erhöhtes Unfallrisiko für diabetische Autofahrer beweisen. Tatsächlich könnte aufgrund einer erhöhten Sorgfalt und Vorsicht dieser Patienten möglicherweise sogar ein geringeres Unfallrisiko bestehen, sagte Oliver Ebert, Vorsitzender des Ausschusses Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), an einer Pressekonferenz anlässlich der DDG-Tagung in Berlin. In der Regel sei davon auszugehen, dass Diabetiker sicher PKW und LKW fahren können. Doch wie häufig sind Unfälle aufgrund von Hypoglykämien tatsächlich? Die Autoren einer 2002 publizierten Studie aus Deutschland (1) kamen zu dem Schluss, dass sich Unfälle aufgrund von Hypoglykämien nur mit einer Rate von 0,01 bis 0,49 pro 100 000 Kilometer oder 0,007 bis 0,01 pro Jahr ereignen. Dies bedeutet, dass ein Unfall infolge einer Unterzuckerung im Mittel erst nach einer Fahrleistung von
zirka 400 000 Kilometern beobachtet werden konnte. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen die Autoren einer internationalen Studie (2). In einer britischen Studie (3) ging man der Frage nach, ob Insulingebrauch das Unfallrisiko erhöht. Insgesamt betrug die Verkehrsunfallquote in der nicht diabetischen Bevölkerung 1469 pro 100 000 Personen gegenüber 856 pro 100 000 bei den Diabetikern. Altersbereinigt zeigte sich kein Unterschied mehr zwischen Diabetikern und Nichtdiabetikern. Auch im Vergleich zu Krankheiten wie ADHS oder Schlafapnoe sei das relative Unfallrisiko bei Diabetes mellitus erheblich geringer (4), sagte Ebert. Daten der Krankenversicherungen zeigen teilweise sogar eine Tendenz zur Reduktion der Arbeitsunfälle bei Menschen mit Diabetes, weil diese Betroffenen in Kenntnis des Gefahrenpotenzials möglicherweise gesteigerte Aufmerksamkeit und Vorsicht walten lassen. Meist dürften Unfälle auf Verhaltensfehler des Patienten zurückzuführen sein, insbesondere Fehleinschätzungen oder Fehler bei
der Selbstbehandlung, wie beispielsweise falsche Insulin- oder Medikamentendosierung, Verwechslung der Insulinsorte, Unterzuckerung nach vorausgegangenem Alkoholkonsum oder unzureichende Blutzuckerselbstkontrollen. Falls hinreichend sichergestellt sei, dass es künftig zu keinem solchen Fehlverhalten mehr komme, sei die Teilnahme am Strassenverkehr daher auch nach einem Unfall weiterhin möglich, so Ebert. Eine Zusammenfassung der in der Schweiz gültigen Regeln findet sich hier: http://www.diabetesschweiz.ch/diabetes/ recht-und-soziales/richtlinien-autofahren
RBOO
Pressekonferenz DDG am 3. November 2016 in Berlin 1. Harsch IA et al.: Traffic hypoglycaemias and accidents in patients
with diabetes mellitus treated with different antidiabetic regimens. J Intern Med (GBR) 2002; 252(4): 352–360. 2. Cox DJ et al.: Diabetes and driving mishaps: Frequency and correlations from a multinational survey. Diabetes Care 2003; 26(8): 2329–2334. 3. Lonnen KF et al.: Road traffic accidents and diabetes: Insulin use does not determine risk. Diabetic Med 2008; 25(5): 578–584. 4. Abrahamian H: Diabetes und Führerschein. Journal für Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel – Austrian Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 2014; 7(1): 6–10.
1062 ARS MEDICI 23 I 2016
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Orthopädie
Kohlwickel gegen Arthroseschmerz
Rückspiegel
Kohlwickel sollen gegen so unterschiedliche Beschwerden wie Gelenkschmerzen, Bronchitis, Halsschmerzen oder Komplikationen nach Insektenstichen helfen. Dabei werden Weisskohl- oder Wirsingblätter so lange mit dem Nudelholz gewalzt, bis Saft austritt, dicke Blattrippen werden zuvor entfernt. Die Blätter sollen dann aufgelegt, mit einem Tuch fixiert und ein bis zwei Stunden am Körper belassen werden. Zumindest für die Anwendung bei Kniearthrose gibt es nun eine Studie, die mit 81 Patienten am Universitätsklinikum Essen durchgeführt wurde. Eingeschlossen wurden Patienten mit Kniearthrose in den Stadien II bis III (Kellgren-Lawrence). Sie wurden nach dem Zufallsprinzip in 3 Grup-
pen aufgeteilt: weitermachen wie bisher, täglich einen Kohlwickel für mindestens 2 Stunden oder Diclofenac-Gel (10 mg/g, mindestens 1-mal täglich). Nach 4 Wochen berichteten die Kohlwickler über weniger Schmerzen als die Patienten ohne Intervention – kein erstaundlicher Befund, der auch mit dem wohlbekannten Plazeboeffekt erklärbar ist. Am besten ging es den Patienten mit dem Diclofenac-Gel, sodass zumindest die Aussage «Diclofenac-Gel wirkt besser als Kohlwickel» erlaubt sein dürfte. RBOO
Lauche R et al.: Efficacy of cabbage leaf wraps in the treatment of symptomatic osteoarthritis of the knee: A randomized controlled trial. Clin J Pain 2016; 32(11): 961–971.
Prävention
Kirchgänger leben länger
Immerhin bis in die Zeitschrift «JAMA Internal Medicine» schaffte es eine Studie, wonach Kirchgängerinnen länger leben (1). Die Publikation mag erfreulich für das «ImpactPoints»-Konto der Autoren sein, der Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft ist eher bescheiden. Grundlage der Studie sind Daten der Nurses’ Health Study in den USA
von 1992 bis 2012. Von den 74 534 Teilnehmerinnen, die zu Beginn der Studie keine kardiovaskulären Erkrankungen oder Krebs hatten, starben innert sechs Jahren 13 537. Die Autoren gaben sich grosse Mühe, mithilfe statistischer Verfahren Faktoren wie Lebensstil und so weiter herauszurechnen. Das Resultat: Frauen, die mehrmals pro Woche an religiösen Feiern teilnahmen, starben im Studienzeitraum seltener als
Frauen, die nie zur Kirche gingen. Das To-
desrisiko der fleissigen Kirchgängerinnen
war um 33 Prozent geringer.
Wie in allen Studien, in denen Assoziationen
zwischen einem Faktor A und einem Fak-
tor B ermittelt werden, sagt dies nichts über
Ursache und Wirkung aus. Selbst die Stu-
dienautoren geben zu, dass die Assoziation
zwischen der Teilnahme an religiösen Riten
und längerem Leben nur schwach sei:
23 Prozent des Effekts erklärten sich durch
soziale Unterstützung, 11 Prozent durch den
Rückgang depressiver Symptome, 22 Pro-
zent durch die Tatsache des Nichtrauchens
und 9 Prozent durch eine optimistische
Lebenseinstellung.
«Die Boswelliasäuren im Weihrauch werden
es jedenfalls ganz gewiss nicht gewesen
sein», kommentiert der Mediziner Helmut
Schatz in seinem Blog, zumal Hochämter
mit Weihrauch, der Boswelliasäuren ent-
hält, in katholischen Kirchen nicht allzu
häufig abgehalten würden und die Assozia-
tion bei Kirchgängerinnen aller Konfessio-
nen gefunden worden sei, auch bei solchen
ohne Weihraucheinsatz (2).
RBOO
1. Li S et al.: Association of religious service attendance with mortality among women. JAMA Intern Med 2016; 176(6): 777–785.
2. http://blog.endokrinologie.net/kirchgaenger-leben-laenger-2854/
Vor 10 Jahren
Neandertaler-DNA
Am 16. und 17. November publizieren die Zeitschriften «Nature» und «Science» die Resultate der Sequenzierung jahrtausendealter Neandertaler-DNA. Dem Team von Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig war es gelungen, aus zwei extrem gut erhaltenen Neandertalerknochen ausreichend DNA für die Analyse zu extrahieren. Pääbos Arbeitsgruppe und das Team des US-Genetikers Edward Rubin sequenzierten die DNA. Demnach stimmt die DNA des Neandertalers und des Homo sapiens zu 99,5 Prozent überein, und ihre Entwicklungslinien trennten sich wahrscheinlich vor zirka 370 000 Jahren.
Vor 50 Jahren
Allopurinol
Allopurinol wird in der Schweiz zur Behandlung bei Gicht und anderen Erkrankungen mit erhöhten Harnsäurespiegeln zugelassen. Die Substanz wird elf Jahre später von der WHO in die Liste der unentbehrlichen Medikamente aufgenommen.
Vor 100 Jahren
Choleraimpfung
Die Choleraimpfung von Soldaten und
Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg lie-
fert Informationen zu deren Wirksamkeit.
So waren «in einem Truppenteil oder
Kriegsgefangenentransport wenige Tage
nach der letzten Impfung die Erkrankun-
gen wie abgeschnitten», berichtet ein
Militärarzt in der Novemberausgabe von
ARS MEDICI 1916. Auch sei der Krank-
heitsverlauf bei Geimpften auffallend mil-
der und die Choleramortalität mit 0 bis
24 Prozent wesentlich geringer als bei
den Nichtgeimpften (22–60%). Die Dauer
der Schutzwirkung ist kürzer als erwartet.
Sie beträgt etwa zwei bis drei Monate,
während man zuvor von gut einem Jahr
ausgegangen war.
RBO
ARS MEDICI 23 I 2016
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