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EDITORIAL
Während Jahrzehnten galt ein Hirnschlag als unabwendbarer Schicksalsschlag. Da keine wirksamen Therapien zur Verfügung standen, mussten die Patienten ihrem oft schweren Schicksal überlassen werden. Rasante technische Fortschritte der letzten Jahrzehnte haben die klinische Neurologie von einer kontemplativen Disziplin in ein Fachgebiet mit mannigfaltigen Therapiemöglichkeiten verwandelt. Insbesondere der Hirnschlag hat von den bahnbrechenden Fortschritten der Bildgebung profitiert. Allerdings haben sich diese Kenntnisse in Diagnostik und Therapie in der Schweiz bisher noch nicht überall im klinischen Alltag durchsetzen können. Jährlich erleiden etwa 16 000 Menschen in der Schweiz einen Hirnschlag: Er ist die dritthäufigste Todesursache, die zweithäufigste Ursache einer Demenz und die wichtigste Ursache einer Behinderung.
den Vorteil, die Anwendung von thrombolytisch wirksamen Medikamenten zu vermindern und das Risiko intrazerebraler Blutungen zu reduzieren. Mit mechanischer Rekanalisation können selbst antikoagulierte Patienten behandelt werden, und vermutlich werden vor allem schwer betroffene Patienten profitieren. Ist der Verlauf im Akutstadium trotzdem schlecht, und entwickelt sich ein maligner Mediainfarkt, steht als Behandlungsmöglichkeit bei jüngeren Patienten die dekompressive Kraniektomie zur Verfügung, um eine schwerste Behinderung abzuwenden.
Die Schweiz benötigt noch mehr Stroke Units Für eine möglichst frühzeitige und lückenlose Behandlung des akuten Hirnschlages haben sich weltweit Stroke Units bewährt. Während in Deutschland 172 Stroke Units (2,3/1 Mio.) und in
Der Hirnschlag
Von der Kontemplation zur gezielten Intervention
Die steigende Lebenserwartung der Schweizer Bevölkerung lässt ausserdem eine Zunahme der Hirnschlaghäufigkeit erwarten. Der Hirnschlag tritt bei Männern fast gleich häufig und bei Frauen sogar häufiger auf als akute Koronarsyndrome. Während die Kardiologen es geschafft haben, die Akutbehandlung der koronaren Herzkrankheit flächendeckend durchzusetzen, fehlt in der Schweiz eine lückenlose Versorgung mit spezialisierten Hirnschlag-Institutionen (Stroke Units). Das Risiko einer Behinderung nach einem Hirnschlag kann durch optimale Akuttherapien relativ bis zu 58 Prozent reduziert werden. Dabei stehen mehrere Therapieoptionen zur Verfügung. Die intravenöse Thrombolyse (IVT) kann innerhalb von 41/2 Stunden nach Symptombeginn verabreicht werden und gilt als Standardtherapie. Allerdings hat die IVT Limitationen: Aufgrund des engen Zeitfensters kann lediglich ein Bruchteil der Hirnschlagpatienten thrombolysiert werden, und bei schweren Hirnschlägen sind die Resultate häufig enttäuschend. Die intraarterielle Thrombolyse (IAT) hat den Vorteil, dass sie besonders bei schweren Hirnschlägen effektiv ist und bis zu 6 Stunden nach Symptombeginn anwendbar ist. IVT und IAT sind daher komplementäre Therapien: Patienten mit einem schweren Hirnschlag profitieren wahrscheinlich mehr von einer IAT, Patienten mit leichteren Symptomen eher von einer IVT. Zusätzlich zeigen neuere Fallserien, dass unmittelbar nach erfolgloser IVT auch eine IAT durchgeführt werden kann. Dieses sogenannte «bridging concept» hat vielversprechende Resultate gezeitigt, und eine grosse randomisierte Studie wird zurzeit durchgeführt. Eine Revolution in der Hirnschlagbehandlung zeichnet sich im Gebiet der mechanischen Gefässrekanalisation ab: Mechanische Rekanalisationstechniken haben
Österreich 32 Stroke Units (3,8/1 Mio.) zur Verfügung stehen, weist
die Schweiz mit insgesamt 10 Stroke Units (1,4/1 Mio.) eine deutli-
che Minderversorgung auf. Ausserdem weisen viele dieser Spezial-
zentren zu wenig Spezialisten, zu geringe MR-Kapazitäten sowie zu
wenig Überwachungs- und Rehabilitationsbetten auf, um Patienten
mit einem Hirnschlag gemäss europäischen Richtlinien zu behan-
deln. Entwicklungsbedarf in der Versorgung besteht aber nicht nur
im Akutbereich, sondern auch in der gezielten Prävention und in der
Nachbehandlung der Patienten.
Obwohl die Hirnschlagforschung in der Schweiz sehr aktiv und er-
folgreich ist und einige Zentren eine international anerkannte
Führungsrolle einnehmen, bestehen in der nationalen flächen-
deckenden Patientenversorgung erhebliche Lücken. Zu wenige
Schweizer Zentren sind in der Lage, alle verfügbaren Therapie-
möglichkeiten rund um die Uhr umzusetzen. Somit bleibt der Hirn-
schlag für viele Patienten in der Schweiz weiterhin ein Schicksals-
schlag. Ärzte, Spitaldirektoren und Politiker sind hier gefordert, die
Situation zu verbessern.
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Urs Fischer1, Jan Gralla2, Caspar Brekenfeld2, Gerhard Schroth2, Heinrich P. Mattle1, Marcel Arnold1 1Universitätsklinik für Neurologie, 2Universitätsinstitut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie
Korrespondenzadresse: Dr. med. Urs Fischer
Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Freiburgstrasse 4, 3010 Bern
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