Transkript
EDITORIAL
Hoffen auf Eva, Agnes, Verah
Ist Eva die Rettung für die Hausarztmedizin? Zumindest in Deutschland scheint das so. Aber Deutschland steckt auch in grösseren Schwierigkeiten als die Schweiz. Zu den ohnehin schon fehlenden Hausärzten auf dem Land bedarf das Land pro Million Einwanderer, egal ob Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge, rund 4000 Ärzte (Ärztedichte in Deutschland: ca. 40 pro 10 000 Einwohner). Natürlich zusätzlich zu den rund 5000 Ärzten, die jährlich von den Unis und von extern kommen. Das ist – Mathematik und Wirklichkeit lassen sich leider nicht austricksen – einfach nicht zu schaffen. Am Ärzte-, speziell am Hausärztemangel tragen aber nicht die Flüchtlinge und Immigranten Schuld; sie akzentuieren das Problem lediglich. Der (regional unterschiedlich ausgeprägte) Hausärztemangel besteht schon länger. Seit bald zehn Jahren gibt es in Deutschland deshalb Bestrebungen, die Ärzte zu entlasten – genau wie in der Schweiz leider nicht in erster Linie von überbordendem administrativem Unfug, sondern von medizinischen Tätigkeiten, die man glaubt, andern Berufsleuten übertragen zu können. Die Rettung naht in Form schöner und durchaus origineller Namen: EVAs sind «Entlastende Versorgungsassistentinnen», VeraHs «Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis», und AGnES steht für «Arztentlastende, gemeindenahe E-Health-gestützte systemische Intervention». Wie die Damen dereinst in der Schweiz heissen werden, ist zweitrangig.
Für gestandene Hausärzte weckt die Entwicklung durchaus zwiespältige Gefühle. Die EVAs etwa sind in der Regel Praxisassistentinnen (MPA) mit einer Zusatzausbildung, die vor allem die zeitintensiven (und mässig honorierten) Hausbesuche übernehmen. Nun gab es schon immer Hausärzte, die gern Hausbesuche machten, weil sie dabei die Lebensumstände ihrer Patienten besser kennenlernten und weil sie darin eine ebenso notwendige wie selbstverständliche Dienstleistung sahen, und andere, denen Hausbesuche eher lästig waren und die fanden, die meisten Patienten könnten es eigentlich bis in die Praxis schaffen, wo diagnostische, therapeutische und pflegerische Massnahmen rationeller zu erbringen sind. Richtig ist jedenfalls: Hausbesuche kosten Zeit. Insofern kann man verstehen, dass man auf die Idee kommt, diese Dienstleistung auszulagern, das heisst gut ausgebildeten Fachpersonen unter ärztlicher Anleitung zu überlassen. Versorgung chronischer Wunden, Blutdruckmessen, Blutentnahmen, Kontrolle der Medikation, Verabreichen von Injektionen, Impfen und so weiter – all das kann eine EVA am Ende genauso gut wie der Arzt. Und wenn ihre Tätigkeit nicht allzu schmürzelig entschädigt wird, kann sie sogar – genau wie der Hausarzt früher – ein paar Minuten mehr aufwenden als rein medizinisch nötig – für ein Gespräch oder eine Tasse Tee. Nein, eigentlich ist gar nichts einzuwenden gegen Eva, Verah, Agnes & Co. Wenn die Hausärzte alters- und genderhalber aussterben, muss halt jemand ihre Arbeit oder Teile davon übernehmen. Und doch bleibt das ungute Gefühl, dass wir den zweifellos kompetenten Damen eine Tätigkeit überlassen (müssen), die eigentlich zu den ureigensten Pflichten des Hausarztes gehört. Aber eben: vielleicht gehörte.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 4 I 2016
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