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Erfahrungen aus der BarKA-MS-Studie zum Einsatz von Fitnesstrackern in der stationären Neurorehabilitation
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Neurologie — Fortbildung
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61752
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FORTBILDUNG
Der lange Weg zur klinischen Routine
Erfahrungen aus der BarKA-MS-Studie zum Einsatz von Fitnesstrackern in der stationären Neurorehabilitation
Kommerzielle Fitnesstracker bieten viele interessante Möglichkeiten zum Einsatz in der Forschung und der Behandlung. Doch worauf sollte beim Einsatz solcher Geräte geachtet werden? Dieser Artikel fasst unsere Erfahrungen mit der BarKA-MS-Studie zusammen und gibt praktische Hinweise zu Datensammlung, Analyse, Datenschutz und Anwendung in der Praxis.

Foto: zVg

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Viktor von Wyl Roman Gonzenbach Jürgen Bernard

von Viktor von Wyl1, Roman Gonzenbach2 und Jürgen Bernard3
Die Zukunft ist schon da! Was vor wenigen Jahren noch schwer vorstellbar war, ist heute Realität. Leicht zu bedienende und kostengünstige Armbänder erlauben die kontinuierliche digitale Messung von mehreren Vitalparametern, auf Distanz und rund um die Uhr. Nebst Schrittzahlen messen diese Geräte körperliche Aktivitätslevels, Schlaf, Hauttemperatur, Herzfrequenz, Atemfrequenz oder Sauerstoffsättigung – und vermutlich bald auch Herzrhythmusstörungen und Stress. Die Rede ist von gängigen Fitnessarmbändern, wie sie gemäss einer Schweizer Onlinestudie bereits von mehr als einem Viertel aller erwachsenen Personen verwendet werden (1). Solche Fitnessarmbänder sind potenziell auch für die medizinische Forschung und für die Versorgung von Nutzen, beispielsweise zur Messung der körperlichen Aktivität bei Personen mit Multipler Sklerose (MS). Dies deshalb, weil körperliche Bewegung sich positiv auf das allgemeine Wohlbefinden und den Erhalt von körperlichen Fähigkeiten von Personen mit MS auswirken kann (2). Der vermehrte Einsatz von Fitnessarmbändern in Forschung und Therapie ist also nicht mehr eine Frage der Verfügbarkeit, sondern eine Frage, wie diese Sensoren möglichst effektiv eingesetzt werden können. Doch was sind die Herausforderungen, was die Chancen? Und wie können die Armbänder am nützlichsten eingesetzt werden, um relevante Verhaltensänderungen und Ge-
1 Institut für Implementation Science in Health Care, Universität Zürich 2 Abteilung Neurologie, Rehazentrum Valens 3 Interactive Visual Data Analysis Group, Universität Zürich

sundheitsverbesserungen zu erzielen? Unser interdisziplinäres Projekt «Barrieren für körperliche Aktivität bei MS» (BarKA-MS) hat hierzu relevante Hinweise geliefert – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
BarKA-MS-Studie: Erprobung von Fitnessarmbändern in der Neurorehabilitation Die BarKA-MS-Studie (3) ist eine laufende Zusammenarbeit zwischen der Rehaklinik Valens und 2 Forschungsgruppen der Universität Zürich (Digital and Mobile Health Group, Interactive Visual Data Analysis Group). Die Beobachtungsstudie rekrutierte insgesamt 45 Personen mit MS, die sich in Valens für eine stationäre Neurorehabilitation aufhielten. Nach Zusage zum Studieneinschluss wurden diese Personen mit kommerziellen Fitnesstrackern ausgestattet (Fitbit Inspire HR). Insgesamt trugen die Teilnehmenden die Fitnesstracker bis zu 8 Wochen, wobei die Messungen in den letzten 4 Wochen im gewohnten Umfeld zu Hause stattfanden und einen Einblick in den Lebensalltag gewährten. Die Sensordaten wurden mithilfe der Onlinestudienplattform Fitabase (https://fitabase.com/) gesammelt, wozu eine regelmässige Verbindung des Trackers mit einem Smartphone via Bluetooth notwendig ist. Zusätzliche Daten wurden im Wochenrhythmus durch eine speziell für Smartphones und Tablets konzipierte Befragungs-App erhoben (Research Management Information System, RMIS) (4).
Daten zum Messkontext sammeln und auswerten Gängige Fitnesstracker liefern Informationen zu einer Vielzahl an Vitalparametern. Die digitalen Messwerte sind aus verschiedenen Gründen jedoch nicht immer einfach auszuwerten und zu interpretieren. Mitunter

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Abbildung 1: Beispiele für Visualisierungen von Zeitreihen (aggregierte Schrittzahlen) auf Personenebene. Bild A): Schrittzahl pro Tag während der BarKA-MS-Studie für 8 exemplarische Teilnehmer (roter Abschnitt: Aufenthalt in Valens; weisser Abschnitt: zu Hause). Bild B): Schrittzahl pro Stunde, dargestellt für einzelne Tage für einen exemplarischen Teilnehmenden der BarKA-MS-Studie. Das Farbschema bildet die Anzahl der Schritte ab in Relation des individuellen Maximums (rot: sehr viele Schritte; orange: Schritte im mittleren Bereich; blau: sehr wenige bis keine Schritte; weiss: keine Messung vorliegend). (Abbildung: Von Wyl, Gonzenbach/Bernard)

führen sie auch zu einem «information overload» (5). Die zeitlich hoch aufgelösten Messungen und die unterschiedlichen Messparameter wie Schrittzahl, Herzfrequenz oder Schlaf sind reich an Details und umfassen eine grosse Anzahl von Datenpunkten. Die BarKA-MSStudie verwendet Sensoren mit teilweise minutengenauer Auflösung der Messparameter. Das heisst, jeder Sensor liefert bis zu 1440 Datenpunkte pro Messparameter, Person und Tag. Bei einem durchschnittlichen Erhebungszeitraum von 7 Wochen kommen so bis zu 70 560 Datenpunkte pro Messparameter und Person zusammen. Die zugehörigen Hersteller-Apps liefern bereits einen guten Überblick über die verschiedenen Messparameter, haben jedoch oft gewisse Einschränkungen. Generell sind diese Apps eher auf die Bedürfnisse von Alltagsnutzenden ausgelegt als auf die von Forschenden mit Interesse an langen Zeitreihen und Details. Vertiefte Erkenntnisse können beispielsweise mit visuellen Analysen von Zeitreihen erzielt werden. Solche Analysen benötigen mitunter spezialisierte Programme oder gar Programmierkenntnisse. Zudem sind verschiedene grundlegende Entscheidungen für die Datenanalyse notwendig. Welche Sensormessungen sollen dargestellt werden? In welcher zeitlichen Auflösung? Und ist der Analysefokus ein Gruppenvergleich oder eher die zeitliche Entwicklung innerhalb derselben Person? Abbildung 1 zeigt exemplarisch, wie unterschiedliche Entscheidungen bezüglich des Analysefokus zu verschiedenen Datenperspektiven und Interpretationen führen. Die linke Abbildung 1A) stellt Zeitreihen der täglichen Schrittzahlen von 8 verschiedenen Teilnehmenden dar. Der visuelle Quervergleich der Zeitreihen illustriert einerseits die Va-

rianz der Schrittzahlen zwischen den Teilnehmenden, andererseits lassen sich damit die Tagesschwankungen innerhalb einer Person gut erkennen. Bereits diese einfache Visualisierung zeigt: Gemittelte Werte über alle Teilnehmenden hinweg sind weniger aussagekräftig, weil sie die intraindividuelle Varianz verdecken. Wie in der rechten Abbildung 1B) zu sehen ist, können Kontextualisierung und zeitlich hoch aufgelöste Darstellungen zusätzlich dazu beitragen, die Messwerte besser zu verstehen. Die Abbildung zeigt stündlich aufgelöste Schrittzahlen als sogenannte Heatmap, wobei blaue Rechtecke wenige Schritte und rote viele Schritte innerhalb einer Stunde anzeigen. Die weissen Rechtecke bezeichnen Messunterbrüche, zum Beispiel weil der Fitnesstracker geladen werden musste. Zur Kontextualisierung wurden der Grafik auf der vertikalen Achse Informationen zum Wochentag und zum Wetter hinzugefügt. Aus den Aktivitätsmustern an verschiedenen Wochentagen lässt sich beispielsweise schliessen, dass die Person an Wochenenden tendenziell eine höhere Schrittzahl bewältigte als an Werktagen. Die Information zur Tageszeit deutet auf regelmässige Schlafgewohnheiten und Wachzeiten, aber auch auf Abweichungen davon hin. Diese Beispiele zeigen, dass Kontextualisierungen hilfreich sein können, um neue Hypothesen zu generieren und zu explorieren.
Zusammenhang zwischen Messsignalen und relevanten Gesundheitsänderungen Doch wie lässt sich aus den vielfältigen Messsignalen auf relevante Änderungen im Gesundheitszustand schliessen? Diese Frage ist alles andere als trivial, wie das folgende Beispiel belegt. Studien haben herausgefunden, dass Fitnessarmbänder bereits 1 bis 2 Tage vor

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Symptombeginn erste Hinweise in der Herzfrequenz auf eine SARS-CoV-2-Infektion erkennen können (6). Es ist jedoch offensichtlich, dass der Umkehrschluss – Veränderung der Herzfrequenz sagt SARS-CoV-2-Infektion voraus – unzulässig ist. Es gibt zu viele und teilweise triviale Gründe für solche Veränderungen. Generell messen Fitnesstracker Vitalparameter, die nicht zwingend mit Gesundheitsproblemen in Zusammenhang stehen. Durch geschickte Kombination von Studiendesign und Kontext lassen sich jedoch Signale von Fitnesstrackern sinnvoll und vor allem prospektiv interpretieren. Die BarKA-MS-Studie ist dafür ein gutes Beispiel. Durch die klare Zuordnung der Messungen während und nach dem stationären Reha-Aufenthalt lassen sich Vergleiche über die beiden Studienphasen anstellen. Zudem lässt sich beispielsweise die durch Sensoren erfassbare wöchentliche Anzahl aktiver Minuten mit einem etablierten Gesundheitsziel der World Health Organization abgleichen (7). Hingegen ist die «magische Schwelle» von 10  000 Schritten pro Tag kein evidenzbasiertes Mass, und bereits tiefere Schrittzahlen können zu Verbesserungen des Wohlbefindens und der Gesundheit führen (8).
Realistische Ziele und Erwartungen definieren Weitere wichtige Überlegungen betreffen das Ziel der Sensormessungen beziehungsweise die Handlungsoptionen bei negativen Messwertentwicklungen. Fitnesstracker sind potenziell für verschiedene Behandlungsziele denkbar: einerseits niederschwellig für ein verbessertes Selbstmonitoring oder als Anstoss für die Arzt-Patienten-Kommunikation aufgrund der gemessenen Daten, andererseits für methodisch sehr anspruchsvolle sensorbasierte Prognosen und diagnostische Hilfsmittel. Letztere Anwendungen müssen sehr anspruchsvolle Prüfverfahren bezüglich Sicherheit, Präzision und Wirksamkeit durchlaufen. Dieser Sachverhalt ist in der «Zielpyramide» in Abbildung 2 dargestellt. Niederschwellige Ziele wie Selbstmonitoring lassen sich potenziell in vielen Behandlungs- und Studiensettings realisieren. Sie sind in der Regel methodisch weniger anspruchsvoll (aber nicht anspruchslos) als die Ziele an der Spitze der Pyramide. Im Vergleich hierzu muss die Entwicklung eines auf Fitnesstrackern basierten Diagnose- oder Vorhersagesystems für gesundheitsrelevante Probleme sehr hohen methodischen Ansprüchen genügen – schliesslich sollen sich medizinische Entscheidungen darauf abstützen. Konkret bedeutet das beispielsweise, dass für solche Studien klar festgelegte, gesundheitsrelevante Endpunkte definiert werden müssen und dass die Validierung der entwickelten Modelle mitgedacht werden muss. Zwischen der Basis und der Spitze der Pyramide existieren verschiedene weitere Mess- und Behandlungsziele von unterschiedlicher Komplexität. Unsere Erfahrungen mit der BarKA-MS-Studie deuten darauf hin, dass gerade die eher niederschwelligen Ziele wie bessere Selbstmotivation durch Fitnesstracker durchaus realistisch und erstrebenswert sind. Mehrere Probanden haben im Rahmen unserer Studien über positive Erfahrungen mit dem Tracker berichtet, und die meisten möchten den Fitnesstracker nach Abschluss der Studie weiterverwenden.

Was jedoch bedacht werden sollte: Einige dieser Ziele betreffen gesundheitsfördernde Verhaltensänderungen. Ein verbessertes Selbstmonitoring durch Fitnesstracker übersetzt sich nur dann in einen Gesundheitsnutzen, wenn die Person tatsächlich auf die Signale reagiert und beispielsweise regelmässiger Sport treibt. Entsprechend gehen solche Interventionen über die technischen Aspekte hinaus, was bei der Planung bedacht werden muss (9).
Den nicht technischen Aspekten Beachtung schenken ... Auch wenn erste Studien bereits die Nützlichkeit und das Potenzial von tragbaren Sensoren in der Praxis belegen, so ist es immer noch ein weiter Weg bis zum routinemässigen Einsatz. Einige dieser Herausforderungen lassen sich exemplarisch an der Apple-Heart-Studie aufzeigen (10). Diese Studie prüfte den Einsatz von Apple-Uhren zur Früherkennung von Herzvorhofflimmern auf Distanz, das heisst ohne örtliche und/oder persönliche Interaktion mit den Studienteilnehmenden. Sie schloss über 400 000 Personen ein. Wie das Beispiel der Apple-Heart-Studie zeigt, liegt ein Vorteil von Digitalstudien auf Distanz und ohne persönliche Interaktion darin, dass diese viel grösser sein können. Allerdings waren in dieser Studie nur etwa 5% aus Alterskategorien mit erhöhtem Risiko für Vorhofflimmern vertreten, was auch mit dem typischen Profil der Nutzenden von Apple-Watches übereinstimmt. Das ist ein bekanntes Phänomen: Die Hürden und Hemmschwellen für die Verwendung von digitalen Hilfsmitteln werden speziell von Personengruppen als hoch empfunden, die mitunter am meisten davon profitieren könnten (11). Zudem musste in der Apple-Heart-Studie festgestellt werden, dass nur etwa 1 von 3 Personen infolge der durch die Uhr festgestellten Anzeichen für Vorhofflimmern die empfohlenen weiteren Schritte und Abklärungen vorgenommen hat. Mit anderen Worten: Passive Messungen funktionieren bereits gut. Allerdings werden Aufforderungen zu aktiven Nutzereingriffen, wie zum Beispiel die Bestätigung von abnormalen Sensorsignalen oder das Ausfüllen eines Fragebogens, oft ignoriert. Des Weiteren leiden digitale Projekte, die nur auf Distanz und ohne persönliche Interaktionen messen, häufig unter vorzeitigen Studienabbrüchen durch Teilnehmende. Als Hauptgrund für eine unvollständige oder gar eine Nichtbeteiligung an digitalen Studien oder Messerhebungen auf Distanz wird das Fehlen persönlicher Beziehungen diskutiert.
... und ein Unterstützungssystem aufbauen In der BarKA-MS-Studie haben wir uns bewusst für ein Hybridmodell mit einer persönlichen Einführung und ersten Erhebungen vor Ort sowie späteren Erhebungen und Unterstützung auf Distanz entschieden. Dabei stellte sich das Vorhandensein von einer speziell eingeführten, mit den Klinikabläufen vertrauten Person vor Ort als Vorteil heraus. Diese Person konnte geeignete Probanden aktiv ansprechen, auf die Studie hinweisen und ausserdem Fragen beantworten. Bei der Studienplanung werden Mitarbeitende in den Klinikzentren oft zu wenig beachtet. Nicht alle dieser Personen verfügen über Erfahrungen mit digitalen Sensoren, und nicht selten schwingt Unbehagen oder

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Prognose, Diagnose
Klinisches Monitoring
Prozessbeschreibung
Verbesserung Konsultationen, Arzt-Patienten-Kommunikation
Selbstlernen, Motivation
Selbstmonitorisierung
Abbildung 2: Pyramide zur Definition von Behandlungszielen. Ziele im oberen Bereich der Hierarchie sind komplexer und gehen mit höheren Anforderungen an Studien sowie an die zugrunde liegende Evidenz einher. (Abbildung: Von Wyl, Gonzenbach/Bernard)
Angst vor Überforderung mit neuen Technologien mit. In der BarKA-MS- und anderen Studien hat es sich sehr bewährt, die eingesetzten Geräte in einer interaktiven Präsentation den Mitarbeitenden vorzustellen und ihnen einige Geräte zu Testzwecken zu überlassen. So kann sich das Personal vor Ort mit den Geräten vertraut machen und das Unbehagen abbauen. Verschiedene Faktoren stellen jedoch Herausforderungen für die Nutzenden wie die Forschenden dar. Die Entwicklung neuer Sensoren verläuft sehr schnell. Softwareaktualisierungen und Änderungen in den Gerätealgorithmen, ohne dass die Nutzenden informiert werden, ereignen sich häufig. Die meisten bisherigen Studien haben allerdings Fitnesstracker über relativ kurze Zeiträume von ein paar Wochen oder Monaten eingesetzt. Selbst wenn die Folgemodelle der gleichen Hersteller in der Regel kompatibel und die Daten zugänglich und kombinierbar sind, gibt es hierfür keine Garantie. Dabei geht es nicht nur um die Sensoren selbst, sondern oft auch um die Smartphones mit den dazugehörigen Hersteller-Apps, die für die Synchronisierung der Sensordaten notwendig sind. Mobiltelefone können kaputtgehen oder werden ausgetauscht, was die Neuinstallation der entsprechenden Apps und die Wiederherstellung der Sensorverbindungen notwendig macht. Unsere Erfahrungen in der BarKA-MS-Studie mit einer relativ kurzen Dauer deuten bereits darauf hin, dass solche Ereignisse nicht selten sind. Deshalb empfiehlt sich während der Laufzeit der Studie die Bereitstellung eines Benutzersupports, der über E-Mail und vor allem per Telefon erreichbar sein sollte. Schliesslich sind wir dazu übergegangen, die Fitnesstracker nach Abschluss der Studie den Teilnehmenden zur freien Verfügung zu überlassen. Einerseits sind diese Geräte mittlerweile in vielen Studien ein im Vergleich zum Personalaufwand geringer Kostenfaktor, und dank des technischen Fortschritts werden die Geräte rasch günstiger und der Funktionsumfang besser. Andererseits ist das einen Anreiz zur Teilnahme und reduziert den logistischen Aufwand für den Rückversand.

Komplexität, Anforderungen an Studien und Evidenz

Transparent mit Datenschutzherausforderungen umgehen Datenschutz sowie ethische und regulatorische Aspekte dürfen natürlich nicht ausser Acht gelassen werden. Den Forschenden, aber auch den Teilnehmenden muss bewusst sein, dass die Daten oft auf Servern ausserhalb des EU-Raums gespeichert werden. Die Nutzungsbedingungen unterscheiden sich zwischen verschiedenen Anbietern sowohl inhaltlich als auch bezüglich Verständlichkeit. Mitunter fordern (interne) Datenschutzoder Ethikbehörden konkrete Begründungen, weshalb ein bestimmtes Produkt in Betracht gezogen wird. Umso wichtiger ist deshalb die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Datenschutz, was das genaue Studium der Gerätenutzungsbedingungen und die Rücksprache mit Datenschutzverantwortlichen beinhaltet. Weiter können begleitende Sicherheitsmassnahmen unternommen werden. Konkret wurden in der BarKAMS-Studie beispielsweise ausschliesslich nicht personalisierte, durch das Studienteam vorbereitete FitbitAccounts bereitgestellt und mit pseudonymisierten E-Mail-Adressen hinterlegt, die beispielweise nicht auf den Namen der Person, das Geburtsjahr oder der Wohnort verweisen. Die Sammlung von Sensor- und Befragungsdaten über getrennte Informatiksysteme und ohne Verwendung von gemeinsamen Personenidentifikatoren mindert ebenfalls Datenschutzrisiken. Zudem wurde auf möglichst «datenschonende» Voreinstellungen geachtet, wie beispielsweise das Deaktivieren von Global Positioning Systems (GPS), sowie auf Einstellungen zu Profilveröffentlichungen oder zum Datenteilen mit Drittparteien und weiteren Apps. Diese Voreinstellungen variieren nach Gerätetyp und müssen vor und bei Aushändigung der Fitnesstracker an die Teilnehmenden vorgenommen werden.
Schlussfolgerung Die Erfahrungen unserer BarKA-MS-Studie und anderer Studien deuten auf das grosse Potenzial von trackerbasierten Untersuchungen und Interventionen in der Neurorehabilitation hin. Dabei zeigt sich, dass kommerziell verfügbare Fitnesstracker kostengünstig sind und valide Ergebnisse liefern. Unsere Erfahrungen machen aber deutlich, dass digitale Studien nicht notwendigerweise kostengünstig sind. Das Pflegen von persönlichen Kontakten und das Unterhalten eines Unterstützungssystems für die Teilnehmenden sind nach wie vor personalintensiv, mitunter jedoch entscheidend für den Rekrutierungserfolg und für die kontinuierliche Teilnahme und die Qualität der erhobenen Daten. Ausserdem müssen Forschende wie in Behandlungen involvierte Personen lernen, mit der Datenfülle und -menge umzugehen. Hierfür bieten sich speziell interaktive visuelle Datenanalysen an, beispielsweise in Form von Programmen und Werkzeugen, die das Betrachten von individuellen Zeitreihen aus verschiedenen Perspektiven bezüglich zeitlicher Auflösung, Kombinationen verschiedener Messparameter oder die Verknüpfung mit Kontextinformationen erlauben. Während solche Programme die Interpretation der Daten vereinfachen, erfordern sie trotzdem gewisse analytische Fähigkeiten sowie einen engen Austausch mit Experten aus anderen Fachdisziplinen wie beispielsweise Data Science (12).

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Daneben braucht es vertiefte Überlegungen zum Um-

gang mit durch Sensoren erhobenen Informationen in

der Gesundheitsversorgung (5). Sind solche Informatio-

nen aus Sicht der betreuenden Fachpersonen eher eine

Last oder werden sie als Bereicherung gesehen? Welche

Handlungen können daraus sinnvollerweise abgeleitet

werden? Wie müssten die existierenden Behandlungs-

prozesse adaptiert werden, damit Sensordaten routine-

mässig integriert werden können? Und wie sollen

medizinische Fachpersonen die Patientinnen und Pati-

enten bei durch Sensordaten inspirierten Verhaltungs-

änderungen unterstützen? Resultiert durch die Nutzung

von Sensordaten ein messbarer Mehrwert in Form von

verbesserten gesundheitsrelevanten Endpunkten, der

in einem günstigen Verhältnis zum Aufwand steht?

Diese Fragen sprengen mitunter die Grenzen verschie-

dener Fachdisziplinen und haben beispielsweise Berüh-

rungspunkte zu Themen der Verhaltenspsychologie

oder der Implementationswissenschaften.

Die rasche Entwicklung und die steigende Verbreitung

von digitalen Hilfsmitteln wie Fitnesstrackern stellen

traditionelle Abläufe im Gesundheitswesen vor neue

Herausforderungen, für die wir noch ungenügend ge-

wappnet sind. Deshalb sind praktische Erprobungen

wie die BarKA-MS-Studie und andere Studien wichtige

Lernfelder, sowohl für Forschende, Patienten als auch

Gesundheitsversorger, um diese Technologien und

deren Nutzen und Risiken besser zu verstehen. Denn

etwas lässt sich antizipieren: Sensoren, ob medizinisch

verordnet oder von Patienten eigenständig getragen,

werden den klinischen Alltag in absehbarer Zeit voraus-

sichtlich noch viel stärker prägen.

l

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Viktor von Wyl Digital and Mobile Health Group Institut für Implementation Science in Health Care
Universität Zürich Universitätstrasse 84
8006 Zürich E-Mail: viktor.vonwyl@uzh.ch
Danksagung: An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Teilnehmenden der BarKA-MS-Studie bedanken. Ein grosser Dank geht ebenfalls an die Mitarbeitenden der Rehaklinik Valens und der Universität Zürich, die zum Erfolg der Studie beigetragen haben. Namentlich sind das Christina Haag, Chloé Sieber, Ashley Polhemus, Ziyuan Lu, Ramona Sylvester, Pashalis Naoumis und Yves Rutishauser. Diese Studie ist eigenfinanziert, und es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Referenzen: 1. Smart Products Lab, 2022. https://smartproducts.org/2022/03/02/
smart-products-report-2022-2/. Letzter Abruf: 25.5.22. 2. Amatya B et al.: Rehabilitation for people with multiple sclerosis: an
overview of Cochrane Reviews. Cochrane Database Syst Rev. 2019;1(1):CD012732. doi:10.1002/14651858.CD012732.pub2 3. ClinicalTrial.gov: NCT-Nr.: 04746807. https://clinicaltrials.gov/ct2/ show/NCT04746807. Letzter Abruf: 25.5.22. 4. Nittas V et al.: Effectiveness of a tailored web app on sun protection intentions and its implications for skin cancer prevention: A randomized controlled trial. PLOS Digit. Health. 2022;1(5):e0000032.

Merksätze:
Praktische Erkenntnisse aus der BarKA-MS-Studie
● Digitale Medizin ist auch personalisierte Medizin: Es geht darum, das richtige elektronische Hilfsmittel für die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt und mit dem richtigen Behandlungsziel zu kombinieren.
● Abgleich von technologischem Potenzial mit Behandlungszielen: Ein konkreter Behandlungsnutzen kann mit niederschwelligen Zielen verknüpft sein, wie beispielsweise Selbstreflexion oder höhere Motivation für körperliche Aktivität dank den Fitnesstrackern.
● Digitale Medizin ist oft eine komplexe Intervention: Nicht die Sensoren und Apps verbessern die Gesundheit, sondern die dadurch eingeleiteten Verhaltens- oder Behandlungsänderungen.
● Persönliche Kontakte und die Unterstützung bleiben wichtig: Speziell bei der Rekrutierung sind persönliche Interaktionen mit Teilnehmenden sehr hilfreich. Diese erleichtern spätere Kontaktaufnahmen auf Distanz, beispielsweise um technische Probleme zu lösen.
● Die Einführung und die Ausbildung von Personen, die in die Versorgung und die Studiendurchführung involviert sind, nicht vergessen: Mitunter gilt es, bei den betreuenden Personen Hemmungen abzubauen, zum Beispiel durch praktische Tests mit den Sensoren.
● Den möglichen späteren Routineeinsatz vorausdenken: Wie können Sensordaten in den Klinikalltag integriert werden? Sind Bereitschaft, Zeit, die richtigen Kenntnisse sowie Ressourcen vorhanden? Mitunter benötigt eine solche Integration Prozessanpassungen sowie eine breite Unterstützung «von oben» und vom gesamten in die Versorgung involvierten Team.
● Kontextdaten miterheben: Daten ergeben oft erst dann einen Sinn, wenn sie als Zeitreihe und in dem entsprechenden Kontext betrachtet werden.
● Datenkomplexität und -menge antizipieren: Die Vielzahl der Messungen und deren hohe zeitliche Auflösung erfordern spezielle Analysewerkzeuge. Interaktive, kontextualisierte Visualisierungen sind ein probates Mittel, um grosse Datenmengen von hoher Komplexität sinnvoll zu interpretieren und neue Hypothesen zu generieren.
5. Steinhubl SR et al.: The emerging field of mobile health. Sci Transl Med. 2015;7(283):283rv3.
6. Radin JM et al.: Assessment of prolonged physiological and behavioral changes associated with COVID-19 infection. JAMA Netw Open. 2021;4(7):e2115959.
7. World Health Organization: Physical activity, 2020. https://www. who.int/news-room/fact-sheets/detail/physical-activity. Letzter Abruf: 25.5.22.
8. Paluch AE et al.: Steps per day and all-cause mortality in middleaged adults in the coronary artery risk development in young adults study. JAMA Netw Open. 2021;4(9):e2124516.
9. Kowatsch T et al.: A design and evaluation framework for digital health interventions. it – Information Technology. 2019;61(5-6):253263.
10. Perez MV et al.: Large-scale assessment of a smartwatch to identify atrial fibrillation. N Engl J Med. 2019;381(20): 1909-1917.
11. Inan OT et al.: Digitizing clinical trials. Npj Digit Med. 2020;3(1):101. 12. Bernard J et al.: A visual-interactive system for prostate cancer cohort
analysis. IEEE Comput Graph Appl. 2015;35(3):44-55.

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