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FORTBILDUNG
Emotionale Entwicklung besser verstehen: Evaluation eines Weiterbildungskurses in der Begleitung von Menschen mit Intelligenzminderung
Um die Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu optimieren, wurde ein modularisierter Weiterbildungskurs entwickelt, der auf dem emotionalen Entwicklungsansatz basiert. Der Kurs wurde im Rahmen einer Studie evaluiert. Der Beitrag fasst die Ergebnisse zusammen.
Foto: zVg
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Marieke Conty Joana Birkner Tanja Sappok
von Marieke Conty1, Joana Birkner2 und Tanja Sappok2
D er emotionale Ansatz wurde von Došen auf der Grundlage von neurobiologischen und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen entwickelt (1, 2). Die Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED) (3) ist ein standardisiertes, evidenzbasiert entwickeltes Erhebungsinstrument zur Feststellung des IQ-unabhängigen, emotionalen Entwicklungsstands (4). Die Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstands kann der Schlüssel zum Verständnis für das innere Erleben und Verhaltensweisen sein, die im Arbeitsalltag der Betreuenden häufig als Herausforderung erlebt werden.
Entwicklung eines Bildungsprogramms In einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe, bestehend aus pädagogischen, psychologischen, medizinischen und pflegerischen Fachkräften, wurde ein Bildungsprogramm zum emotionalen Entwicklungsansatz konzipiert, um Menschen mit Intelligenzminderung so zu begleiten, dass sich deren Lebensqualität erhöht und sie Umgebungen vorfinden, die zu ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten passen. Ziel der Weiterbildung war es, das Verhalten vor dem Hintergrund des jeweiligen emotionalen Entwicklungsstands zu interpretieren, die Beziehung zum Klienten professionell und entwicklungsfreundlich zu gestalten, um so passgenaue Interventionen planen zu können. Um oben genannte Qualitätsvariablen zu berücksichtigen, wurde ein Seminarplan entwickelt, der neben der Wissensvermittlung zum emotionalen Entwicklungsansatz praxisnahe Anteile und Arbeitsaufträge für die direkte Umsetzung im Arbeitsalltag mit Klienten einbezieht. Die für Fachkräfte in der Behindertenhilfe berufsbegleitende Weiterbildung umfasste 12 Schulungstage, die sich blockweise über einen Zeitraum von 8 bis 10 Monaten aufteilten und sich an den Entwick-
1 v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel, Bethel.regional, Fachdienst Autismus 2 Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gGmbH, Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen
lungsbereichen der SEED orientierten (3). Jeder Teilnehmende brachte einen Indexklienten aus der eigenen Einrichtung in die Fortbildung ein und erhielt parallel praktische Arbeitsaufträge für den Berufsalltag.
Methode Am oben beschriebenen Bildungsprogramm nahmen 10 Mitarbeitende aus 4 Wohneinrichtungen für Personen mit einer Intelligenzminderung eines grossen, diakonischen Trägers der Eingliederungshilfe teil. Der Kurs fand über einen Zeitraum von 9 Monaten von Oktober 2017 bis Juli 2018 statt. Die in der Studie erhobenen Daten bezogen sich jeweils auf die in die Weiterbildung eingebrachte Indexperson. In der Kontrollgruppe bezogen sie sich auf andere Klienten derselben Wohngruppen und deren Bezugsmitarbeitende, die nicht an der Weiterbildung teilnahmen. Die Daten der Studie wurden zu Beginn des Kurses zum Messzeitpunkt 1 (MZP 1), bei Abschluss des Kurses (+9 Monate, MZP 2) und 5 Monate nach Kursende (MZP 3) erhoben. In beiden Gruppen kam es im Verlauf des Schulungszeitraums zu je einem Drop-out. Für die Überprüfung kurz- und mittelfristiger Effekte wurden verschiedene Aspekte der Schulung in einem freien Frageformat beurteilt (MZP 2 und MZP 3) und mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht. Ausserdem bewerteten die Mitarbeitenden beider Gruppen das Verhalten ihrer Klienten und das eigene Erleben ihres Arbeitsalltags mithilfe standardisierter Fragebögen (Erleben bei der Arbeit [5], Inventar für Verhaltensprobleme [6]) (MZP 1 bis MZP 3).
Ergebnisse Die Veränderungen in der qualitativen Inhaltsanalyse liessen sich in 3 Hauptkategorien einteilen, die sich auf Veränderungen bei den Klienten, den Mitarbeitenden bzw. auf das weitere Umfeld und den Transfer auf andere Kontexte bezogen. In deutlich geringerem Masse wurden Textinhalte gefunden, die beschreiben, dass sich keine Veränderungen ergeben haben. Die Kategoriensammlung bezog sich auf die gefundenen Veränderungen und umfasste insgesamt 17 Kategorien.
Ergebnisse auf Ebene der Klienten Die qualitativen, klientenbezogenen Veränderungen lassen sich in 3 Oberkategorien einteilen (Tabelle 1).
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Hauptkategorien: Veränderungen Klienten
Oberkategorie 1 Entspannung, positiver Gefühlsausdruck 2 Mehr Aktivität, mehr Selbstwirksamkeit 3 Verhaltensänderung positiv
Ankersätze «Der Klient wirkt im Allgemeinen glücklicher» «Der Klient fordert mehr neue Aufgaben ein» «Er zeigt wenig selbst- und fast gar kein fremdverletzendes Verhalten»
Tabelle 2:
Ergebnisse auf Ebene Klienten und Mitarbeitende
Klienten IVP Gesamtwert: Häufigkeit IVP Gesamtwert: Schweregrad
Interventionsgruppe (n = 9) MPrä – MPost Differenz
Kontrollgruppe (n = 9)
MPrä – MPost
Differenz
Statistische Signifikanz1
17,11–24,11 –7,00 10,22–17,11 –6,89
20,33–25,22 15,11–16,66
–4,89 –1,55
p = 0,66; n. s. p = 0,22; n. s.
Mitarbeitende EA: Emotionale Erschöpfung EA: Depersonalisation EA: Reduzierte Leistungsfähigkeit EA: Gesamtwert
20,11–21,67 7,67–7,75 17,56–16,00 45,33–45,44
–1,56 –0,08 1,56 –0,11
20,78–19,22 7,22–7,67 24,11–26.67 52,11–53,56
1,56 –0,44 –2,56 –1,44
p = 0,23; n. s. p = 0,96; n. s. p = 0,55; n. s. p = 0,85; n. s.
Anmerkung: n = 18. MPrä = Mittelwert zu MZP 1. MPost = Mittelwert zu MZP 2. IVP = Inventar für Verhaltensprobleme. EA = Erleben bei der Arbeit. 1 t-Test zweiseitig. n. s. = nicht signifikant.
Im Inventar für Verhaltensprobleme (IVP) (6) findet sich für den Gesamtwert sowohl in der Skala «Häufigkeit» als auch in der Skala «Schweregrad» in beiden Gruppen deskriptiv ein leichter, nicht signifikanter Symptomanstieg von MZP 1 zu MZP 2. Die Interventions- und die Kontrollgruppe unterscheiden sich dabei weder in Schweregrad noch Häufigkeit.
Ergebnisse auf Ebene der Mitarbeitenden Die Veränderungen, die sich für die Teilnehmenden der Schulung ergeben haben, sind in 7 Oberkategorien zusammengefasst. So ergaben sich unter anderem die Kategorien «Wissenszuwachs», «Entwicklungspsychologie» und «Veränderte Interpretation von Verhalten» mit dem Ankersatz «Ich kann meine Klienten besser verstehen und manches Verhalten besser reflektieren» und die Kategorie «Mehr eigene Sicherheit, Entlastung» mit dem Ankersatz «... bin ich offener und sicherer im Umgang». Im Erleben bei der Arbeit (5) fanden sich in den beiden Gruppen im Gesamtwert und in den einzelnen Subskalen leichte Veränderungen, wobei diese aber in beiden Richtungen auftraten und sich kein systematischer Gruppenunterschied feststellen liess (siehe Tabelle 2).
Ergebnisse auf Ebene des Umfelds In der qualitativen Analyse der Veränderungen, die sich mit der Schulung für das Umfeld ergeben haben, bildeten sich 7 Oberkategorien heraus, die sich auf Rückmeldungen des Umfelds sowie auf die weitere Bearbeitung der Inhalte in anderen Zusammenhängen bezogen: zum Beispiel die Kategorien «Positive Rückmeldungen/Interesse von Kollegen» und «Aktive Bearbeitung im Team und Umfeld».
Diskussion
Mitarbeitende in Wohngruppen sehen sich oft mit
auto-, sach- oder fremdaggressiven Verhaltensweisen
konfrontiert. Aber auch eigenartige Stereotypien, offen-
sichtliches Unwohlsein trotz aller Bemühungen des
Umfelds oder die wiederholte Missachtung einfacher
Regeln können die Beziehung zum Klienten stark belas-
ten. Die Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstands
kann hier eine neue Perspektive auf Verhaltensbeson-
derheiten und -störungen eröffnen und gibt Aufschluss
über die individuelle Bedürfnis- und Fähigkeitslage (7).
Der direkte Nachweis von Verhaltensänderungen von
Klienten durch Mitarbeitendentrainings ist erschwert (8,
9). Insgesamt sprechen Rückmeldungen der befragten
Teilnehmenden mindestens für kurz- und mittelfristige
positive Effekte des Fortbildungsangebots. Möglicher-
weise sind die Fallzahlen zu gering, um die Effekte mit-
hilfe der quantitativen Methoden abzubilden. Limita-
tionen der Studie beziehen sich auf das offene, eher
explorative Untersuchungsformat und die kleine Unter-
suchungsgruppe.
Aufgrund des Pilotcharakters und der Analyse nur eines
Fortbildungsblocks mit einer Referentin sind die Ergeb-
nisse nur eingeschränkt generalisierbar. Auch eine Ran-
domisierung in Interventions- und Kontrollgruppe fand
nicht statt.
G
Korrespondenzadresse:
Marieke Conty
Bethel.regional, Fachdienst Autismus
Herbergsweg 10, D-33617 Bielefeld
E-Mail: marieke.conty@bethel.de
Die Langfassung dieser Studie finden Sie unter folgendem Link.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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Literatur:
1. Došen A: Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung. Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene. Göttingen: Hogrefe Verlag 2010.
2. Sappok T et al.: Scale of emotional development – short. Research in Developmental Disabilities 2016; 59: 166–175.
3. Sappok T et al.: SEED: Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik. Bern: Hogrefe, 2018.
4. Sappok T et al.: Das Alter der Gefühle – Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung. Bern: Hogrefe, 2019.
5. Büssing A et al.: Die Messung von Burnout. Untersuchung einer deutschen Fassung des Maslach Burnout Inventory (MBI-D) [Measuring burnout: A study of a German version of the Maslach Burnout Inventory (MBI-D)]. Diagnostica 1992; 38(4), 328–353.
6. Rojahn J et al.: The Behavior Problems Inventory: An instrument for the assessment of self-injury, stereotyped behavior and aggression/ destruction in individuals with developmental disabilities. Journal of Autism and Developmental Disorders 2001; 31: 577–588.
7. Sappok T et al.: The missing link: Delayed emotional development predicts challenging behavior in adults with intellectual disability. J Autism Dev Disord 2014; 44(4): 786–800.
8. Jahr E: Current issues in staff training. Res Dev Disabil 1998; 19(1): 73–87.
9. Hassiotis A et al.: Clinical outcomes of staff training in positive behaviour support to reduce challenging behaviour in adults with intellectual disability: cluster randomised controlled trial. Br J Psychiatry 2018; 212(3): 161–168.
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