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FORTBILDUNG
Versorgungsstrategien bei Demenz
Die Diagnose Demenz ist mit Angst und Verunsicherung verbunden. So kommen viele noch immer eher spät zur Abklärung. Nach der Diagnose bleiben Patienten und ihre Angehörigen mit ihren Fragen zur weiteren Planung und Versorgung meist auf sich gestellt. Eine umfassende Versorgungsstrategie, die Leitplanken von den ersten kritischen Momenten des Eintritts ins Versorgungssystem mit der Früherkennung bis hin zum Lebensende mit Demenz bereitstellt, leistet einen wichtigen Beitrag zur Lebensqualität aller Betroffenen, aber auch zur ökonomischen Gestaltung von strukturübergreifenden Versorgungspfaden.
Stefanie Becker
von Stefanie Becker
Ausgangslage: Herausforderung Demenz
R epräsentative epidemiologische Untersuchungen zur Häufigkeit von Demenzerkrankungen in der Schweiz existieren bis heute keine. Nach Schätzungen von Alzheimer Schweiz leben in der Schweiz heute rund 150 000 Menschen mit Demenz (1). Von Demenz betroffen sind jedoch nicht nur die erkrankten Personen selbst, sondern deren Angehörige sowie ihre Helfer aus dem Gesundheits- und Sozialwesen. Damit haben zirka 600 000 Personen in der Schweiz täglich mit Demenz zu tun. Da das Alter bis heute der grösste Risikofaktor für eine Demenzerkrankung ist, gehen die meisten Experten aufgrund der demografischen Entwicklung davon aus, dass die Prävalenzzahlen – trotz eines möglichen Sinkens der Inzidenz – steigen. Die WHO geht von einer Verdreifachung der Prävalenz in den kommenden 30 Jahren weltweit aus (2, 3). Eine Heilung, insbesondere bei Alzheimer-Demenz, die mit gut zwei Dritteln aller Erkrankten häufigste Form von Demenz, ist derzeit nicht in Sicht. Demenz ist bereits heute der häufigste Grund für Pflegebedürftigkeit im Alter, und Demenzerkrankungen sind in der Schweiz die dritthäufigste Todesursache (4). Will man diesen gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Herausforderungen zukünftig begegnen, sind für eine angemessene Betreuung und Pflege von Demenzbetroffenen entsprechende finanzielle Ressourcen notwendig. Bereits 2009 wurden die jährlichen Kosten für die Betreuung und die Pflege von Menschen mit Demenz in der Schweiz auf 6,9 Milliarden Franken geschätzt (5). Davon fiel der Grossteil auf Hilfe- und Unterstützungsleistungen der Angehörigen. Die Kosten dürften heute schon allein aufgrund der Fallzahlen, die
sich seither erhöht haben, deutlich weiter gestiegen sein.
Versorgungsstrategien bei Demenz: Versorgungspfade Die Diagnose Demenz ist mit Unsicherheit und Angst vor der Zukunft eines Lebens mit der Erkrankung geprägt. In solchen Situationen benötigt es Leitplanken für die Betroffenen, um die immer wieder geforderten vorausschauenden Planungen für ihre Zukunft mit der Erkrankung machen zu können. Doch bis heute sehen sich Demenzkranke und ihre Nahestehenden in einem Labyrinth von sich widersprechenden Informationen, unklaren Zuständigkeiten, Angebots- und Finanzierungslücken und nicht zuletzt einem Dschungel von administrativen Notwendigkeiten gegenüber. Versorgungsstrategien bieten solche Leitplanken. Sie beschreiben «Demenzpfade» über die Schnittstellen und Sektoren des Gesundheits- und Sozialsystems hinweg und sind eingebettet in die Definition von Rahmenbedingungen, die eine bedürfnisgerechte über den gesamten Verlauf der Erkrankung begleitende Versorgung sicherstellen. Die WHO hat im Rahmen ihres Globalen Aktionsplans zu Demenz die verschiedenen Ebenen einer Rahmenstrategie der Versorgung bei Demenz zusammengefasst, in deren Zentrum die Betroffenen stehen (3). Die Implementierung solcher Versorgungsstrategien für Demenz stellt daher nicht nur eine zwingende Notwendigkeit dar, sondern ist zentrale Voraussetzung für die Dämpfung weiterer Kostensteigerungen im Gesundheitswesen, aber vor allem Voraussetzung für die Förderung und die Erhaltung der Lebensqualität der Betroffenen. Diese Strategien müssen, wie auch in der Nationalen Demenzstrategie 2014–2107 des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK)
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gung sich Spezialwissen über Demenz aneignen. Aktuell beträgt die Kapazität in den Schweizer MemoryClinics zirka 5000 Fälle jährlich. Die geschätzte jährliche Inzidenz von mehr als 25 000 Fällen zeigt die Versorgungslücke deutlich. Zu den Diagnoseprozessen selbst gibt es sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz Konsensuspapiere, die deren Empfehlungen als wichtige Leitlinien dienen (10, 11).
Abbildung: Nationale Demenzstrategie 2014–2019: 4 Handlungsfelder – 9 Ziele (17)
klar definiert, an den Bedürfnissen der Betroffenen und ihrem Krankheitsverlauf ausgerichtet sein (6, 7) (Abbildung).
Umfassende Versorgung muss integriert und koordiniert sein Eine Versorgungsstrategie soll nicht nur die direkten Angebote und Versorgungsleistungen berücksichtigen, sondern muss das gesamte gesellschafts-, gesundheits-, sozial- und bildungspolitische System miteinbeziehen, um die Rahmenbedingungen für die Sicherstellung einer hohen Versorgungsqualität nicht nur heute, sondern auch in Zukunft zu gewährleisten. Die Strategie berücksichtigt dabei nicht nur die Leistungen im Gesundheitssystem selbst, sondern auch alle notwendigen Voraussetzungen, die hierfür notwendig sind (8).
Früherkennung fördern Zu den wichtigsten Anforderungen einer bedarfs- und bedürfnisgerechten Versorgungsstrategie gehört die Früherkennung. Hier kommt Hausärzten eine Schlüsselrolle zu. Sie sind die ersten Anlaufstellen bei gesundheitlichen Problemen, kennen ihre Patienten oft schon seit Jahren und können durchaus auch schon relativ früh Veränderungen an ihnen bemerken. Doch auch Hausärzten selbst fällt es nicht immer leicht, das Tabuthema Gedächtnisstörungen anzusprechen. Mangelndes Krankheitswissen oder Zeit- beziehungsweise Tarifdruck können einem möglicherweise notwendigen, ausführlicheren Gespräch entgegenstehen. Entsprechend sind einfache und leicht anzuwendende (Erst-)Diagnostikinstrumente notwendig. Der BrainCheck (9) beispielsweise ist ein speziell für das hausärztliche Screening entwickeltes Tool für Patienten ab zirka 60 Jahren mit kognitiven Beschwerden. Es ist zwar kein Diagnoseinstrument, hilft in der Hausarztpraxis jedoch, zu entscheiden, ob weitere diagnostische Schritte notwendig sind.
Symptomabklärung und Diagnose Die Diagnosestellung ist eindeutig eine ärztliche Aufgabe und sollte in einer hierfür spezialisierten Einrichtung, einer Memory-Clinic, stattfinden. Im Rahmen einer Versorgungsstrategie muss daher sichergestellt werden, dass es ausreichend solche Spezialisten und Spezialistinnen gibt und dass auch Ärzte in der Grundversor-
Diagnosevermittlung und postdiagnostische Unterstützung Der Unterstützung für einen guten, für die Zukunft eines Lebens mit einer Demenzerkrankung wichtigen Umgang mit der Diagnose kommt zentrale Bedeutung zu. Dabei ist die Art und Weise der Vermittlung der Diagnose entscheidend für den weiteren Behandlungsverlauf. Wird diese mit der notwendigen Sensibilität vermittelt, schafft dies Vertrauen bei Menschen mit Demenz und fördert die Suche nach angemessenen Bewältigungsstrategien. Die Diagnosevermittlung wird dabei häufig nicht mit einem einzigen Gespräch erledigt sein. Nach dem ersten «Schock» der Diagnose stellen sich die wichtigen Fragen häufig erst einige Zeit später. Wenn die Erkrankten und ihre Angehörigen in dieser Situation angemessen beraten werden und ihnen bereits erste Wege aufgezeigt werden, wie auch mit einer Demenzerkrankung ein gutes Leben möglich ist oder wo sie weitere Hilfen und Unterstützung erhalten können, dann ist das einer der wichtigsten Beiträge für eine gute Bewältigung und eine Orientierungshilfe (12–14). Aber auch wenn die initialen Fragen geklärt sind, müssen die Betroffenen während des weiteren Krankheitsverlaufs – wenn möglich feste – Ansprechpartner haben, die sie auch über das Fortschreiten der Erkrankung beraten und weiterhin begleiten.
Behandlung und Therapie Bis heute gibt es keine heilende Therapie, vor allem nicht für die Alzheimer-Demenz. Dennoch gibt es verschiedene medikamentöse und psychosoziale Behandlungen und Therapien, die wesentlich zur positiven Beeinflussung von Symptomen und zur Förderung der Lebensqualität der Erkrankten beitragen können (11, 15, 16). Ein interdisziplinärer Ansatz ist daher gefragt. Doch noch immer vertreten viele Ärztinnen und Ärzte die Meinung, dass Therapie nicht hilfreich sei, oder schicken Personen mit unklaren kognitiven Symptomen mit dem Hinweis nach Hause, dass sie bei einer Verschlechterung der Symptomatik ja wiederkommen könnten. Kombinationen beider Ansätze können insbesondere bei der Behandlung von behavioralen und psychischen Verhaltenssymptomen hilfreich sein. Nicht medikamentöse Therapien wie zum Beispiel Biografiearbeit, Kunst- oder Ergotherapie, Milieutherapie und körperliche Bewegung tragen substanziell zu einer Stabilisierung im Alltag und einer Verbesserung der Lebensqualität bei und sind medikamentösen vorzuziehen. Versorgungsstrategien müssen die Möglichkeiten der nach aktuellem Konsensus (10, 11) anerkannten Therapien zwingend einbeziehen und sicherstellen, dass diese und deren spezifische Indikation über den Verlauf der Erkrankung bekannt sind. Geeignete Therapieangebote müssen heute jedoch in vielen Regionen erst noch aufgebaut werden. Diese Strukturentwicklung stellt
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ebenfalls einen wichtigen Teil einer Versorgungsstrategie dar, mit dem vor Ort eine Versorgung überhaupt erst möglich wird.
Unterstützung und Entlastung des nahen Umfeldes 60 Prozent der Erkrankten leben zu Hause. Sie werden mehrheitlich von ihren Angehörigen betreut und gepflegt, oft bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Zu den zentralen Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Versorgungsstrategie bei Demenz gehört daher auch die Entwicklung von Entlastungs- und Unterstützungsangeboten, um die wertvolle Ressource, die Gesundheit der Angehörigen, so lange wie möglich zu erhalten.
Merkpunkte:
G Demenzleitpfade können helfen, Verunsicherung zu reduzieren, und fördern die Lebensqualität der Erkrankten und ihrer Betreuenden. Nicht zuletzt tragen sie dazu bei, unnötige Kosten zu reduzieren. – Sie sind Leitplanken, innerhalb deren eine individualisierte Versorgung stattfindet. – Sie sind in ein gesellschaftliches und politisches Gesamtsystem eingebettet. – Sie umfassen den gesamten Krankheitsverlauf und schliessen die Bedürfnisse der Angehörigen mit ein. – Als integrierte Ansätze stellen sie die Übergänge an den Systemschnittstellen sicher. – Begleitende Ansätze zur Wissensvermittlung und zur gesellschaftlichen Information sind wichtig Bestandteile. – Sie berücksichtigen zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen.
§ Effektive und effiziente Versorgungsstrategien
orientieren sich am Krankheitsverlauf, gewährleisten koordinierte, individualisierte sowie bedarfs- und bedürfnisgerechte Leistungen und berücksichtigen zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen.
Der Blick auf Randgruppen
Eine Versorgungsstrategie für Demenz muss auch zu-
künftige Entwicklungen sowie gesellschaftliche Grup-
pen und deren Risiko, an Demenz zu erkranken,
berücksichtigen. So beispielsweise auch die steigende
Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung und
die wachsende Anzahl von Jungerkrankten.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Stefanie Becker
Alzheimer Schweiz
Gurtengasse 3
3006 Bern
Email: stefanie.becker@alz.ch
Referenzen:
1. Alzheimer Schweiz (2018): Menschen mit Demenz in der Schweiz: Zahlen und Prognosen.
2. WHO (2012): Dementia: a public health priority.
3. WHO (2017): Global action plan on the public health response to dementia 2017–2025.
4. Bundesamt für Statistik (2017): https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/ home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeittodesursachen/spezifische.html#par_text.
5. Alzheimer Schweiz (2010): Kosten der Demenz in der Schweiz. Ecoplan.
6. Bundesamt für Gesundheit (2014): Nationale Demenzstrategie Schweiz 2014–2017.
7. Bundesamt für Gesundheit (2017): Nationale Demenzstrategie Schweiz 2014–2019.
8. National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Dementia pathways. http://pathways.nice.org.uk/pathways/dementia. Letztes update 13. November 2017
9. Ehrensperger MM et al. (2014): BrainCheck – a very brief tool to detect incipient cognitive decline: optimized case-finding combining patient- and informant-based data. Alzheimer’s Research & Therapy, 6: 69.
10. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde und Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2016): Demenz: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie.
11. Monsch A et al. (2012): Konsensus 2012 zur Diagnostik und Therapie von Demenzkranken in der Schweiz. Praxis, 101 (19): 1239–1249.
12. Aminzadeh F et al. (2007): Emotional impact of dementia diagnosis: exploring persons with dementia and caregivers’perspectives. Aging Ment Health, 11(3): 281–290.
13. Samsi K, Abley C, Campbell S, et al. (2014): Negotiating a labyrinth: experiences of assessment and diagnostic journey in cognitive impairment and dementia. Int J Geriatr Psychiatry, 29(1): 58–67.
14. Bopp-Kistler I (2015): Diagnosevermittlung. Ther Umsch, 72(4): 225–31.
15. Savaskan E et al. (2014): Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD). Praxis, 103(3): 135–148.
16. Legere LE et al. (2017): Non-pharmacological approaches for behavioural and psychological symptomes of dementia in older adults: a systematic Review of Reviews. J Clin Nurs, Aug 9. doi: 10.1111/ jocn.14007. [Epub ahead of print].
17. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/strategien-politik/nationale-gesundheitsstrategien/nationale-demenzstrategie.html
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