Transkript
NEUE SERIE: MEDIZIN & RECHT
TEIL 1
Liebe Leser
Medizin und Recht werden von Psychiatern oft eher als Gegensätze, denn als Ergänzungen angesehen. Dabei stellen Recht und Gesetz die Voraussetzung für den «Prozess der Zivilisation» dar, und sie sind auch die Grundlage ärztlichen Handelns: Sie führt ohne die Einwilligungsfähigkeit oder ohne gesetzlich geregelte Ausnahmen den Tatbestand der «Körperverletzung».
Tagtäglich geben wir medizinische Informationen an Dritte weiter, welche ohne die gesetzlich geregelten Grundlagen strafrechtlich relevant wären: Das Ausfüllen von Arbeitszeugnissen sollte nicht ohne gesetzliche Grundkenntnisse erfolgen; eine Behandlung nach OKP setzt die Kenntnis der Kriterien von Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit voraus. Wollen wir uns gegen den Vorwurf eines «Kunstfehlers» wehren, sollten uns Begriffe wie Vorhersehbarkeit, Vermeidbarkeit und Zweckmässigkeit geläufig sein.
Wir werden in den kommenden Ausgaben verschiedene, für die Medizin relevante Bereiche des Rechts besprechen: Das reicht vom Krankenversicherungsüber das Sozialversicherungsgesetz zum Verkehrsrecht, vom Zivil- und Haftpflichtrecht zum Strafrecht.
Ich freue ich mich jetzt schon auf die Beiträge von namhaften Experten der beiden «Schwesterwissenschaften» Medizin und Recht und auch auf einen lebhaften Austausch mit Ihnen! (E-Mail: info@rosenfluh.ch)
Die Schwerpunktserie wird verantwortet von: Dr. Gerhard Ebner, M.H.A., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (CH), Mitglied FMH, mit Praxis in Zürich.
Vom Umgang mit Krankenkassen und Versicherungen in der Psychiatrie
Fragen und Schwierigkeiten im Umgang mit Versicherungen beschäftigen Psychiater zunehmend im klinischen Alltag. Die Psychiaterin Dr. med. Fulvia Rota, Präsidentin der Ständigen Kommission Versicherungen der FMPP, spricht im Interview über wichtige Aspekte bezüglich der Berichterstattung an Krankenkassen und Taggeldversicherungen.
Psychiatrie + Neurologie: Ist der Druck der Krankenkassen und Versicherungen in der Psychiatrie gestiegen? Dr. Fulvia Rota: Jeder Psychiater nimmt den Druck individuell wahr. Aber der Druck ist auf jeden Fall gestiegen. Die Medizin wird heute immer mehr durch die Ökonomisierung bestimmt; das Soziale wird zunehmend durch die Rentabilität ersetzt. Statt um die Wirksamkeit geht es vor allem um die Wirtschaftlichkeit von Methoden. Behandlungen werden immer häufiger infrage gestellt. Der Rechtfertigungsdruck nimmt stetig zu, so wie auch die Anzahl von Berichten, die für die Krankenkassen geschrieben werden müssen. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der recht aufwändige Bericht zuhanden des Vertrauensarztes der Krankenkasse gerade einmal mit 35 bis 40 Franken vergütet wird!
Was muss der Psychiater der Krankenkasse melden, und was muss die Krankenkasse selbst holen? Fulvia Rota: Die ärztlichen Psychotherapien im engeren Sinne unterstehen der sogenannten Krankenpflegeleistungsverordnung (KLV) Art. 2 und 3. Diese besagt, dass der Arzt einen Bericht zuhanden des Vertrauensarztes schreiben muss, wenn die Therapie nach 40 Sitzungen weitergeführt werden soll; das heisst, der Arzt hat eine Bringschuld. Psychiatrische und integrierte psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen hingegen unterstehen nicht der KLV. Der behandelnde
Fulvia Rota
Psychiater ist hier nicht gehalten, von sich aus darüber dem Vertrauensarzt zu berichten. Die Versicherung ist jedoch befugt, zuhanden des Vertrauensarztes vom behandelnden Arzt einen Bericht zur Überprüfung der WZW-Kriterien (gem. Art. 32, KVG) zu verlangen, es gilt in diesen Fällen also eine Holschuld der Kasse.
Was sollte in diesem Bericht stehen? Was ist für den Vertrauensarzt relevant? Fulvia Rota: In ein Kostengutsprachegesuch gehören selbstverständlich eine kurze Anamnese und die Diagnose; dann auch die bisherige Behandlung mit dem Setting sowie ein Vorschlag zur Fortsetzung der Therapie mit Angabe von Ziel, Zweck und voraussichtlicher Dauer.
30 2/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
NEUE SERIE: MEDIZIN & RECHT
TEIL 1
Am allerwichtigsten ist jedoch, und das kann nicht genügend betont werden, dass dem Vertrauensarzt dargelegt werden sollte, welches die psychosozialen Auswirkungen der Erkrankung im Alltag sind; dadurch lässt sich die Notwendigkeit einer Therapie gut herleiten.
Können Sie Beispiele nennen? Fulvia Rota: Zwänge zum Beispiel können die Ursache für ein Vermeidungsverhalten im Alltag sein und auch zu sozialem Rückzug mit all seinen Konsequenzen führen. Oder bei Menschen mit mangelhafter Realitätsprüfung oder geringer Frustrationstoleranz kann es zu Verzerrungen und Konflikten in Beziehungen kommen, was zu Problemen am Arbeitsplatz bis hin zum Stellenverlust führen kann oder auch zu Eheproblemen, beides ist wiederum Nährstoff für Depressionen, Ängste und so weiter. Oder jemand hat ein geringes Durchhaltevermögen und Konzentrationsstörungen, macht Fehler, fühlt sich schnell verunsichert und gerät so in einen Teufelskreis von Erwartungen an sich selbst und Versagensängsten und so weiter. Es braucht in diesem Bericht allerdings weder psychodynamische Erklärungen, noch muss eine Theorie entwickelt oder begründet werden.
Gibt es diesbezüglich auch Anleitungen? Fulvia Rota: Nein, die gibt es nicht. Jeder Fall ist im Prinzip individuell; es gibt keine Schemata, wie man es zum Beispiel von der Chirurgie her kennt – es gibt nicht die Depression oder die Schizophrenie. Der Bericht soll jedoch rechtzeitig verfasst werden, wenn möglich zwei bis drei Wochen vor Ablauf der 40 Sitzungen; er sollte dabei maximal 1 bis 2 Seiten lang sein, also kurz und konzis. Ganz wichtig ist der Grundsatz, dass der Bericht nur die Angaben enthalten darf, die zur Beurteilung der Leistungspflicht des Versicherers nötig sind. Das steht wörtlich so in der Verordnung; das heisst: so viel Informationen wie nötig und so wenig wie möglich.
Beklagen sich Psychiater darüber, dass die Kosten der Fortsetzung nicht übernommen werden? Fulvia Rota: Weniger die Übernahme der Kosten zur Fortsetzung einer Therapie sind das Problem – denn die Mehrheit der Kostengutsprachegesuche, die übrigens in aller Regel gerechtfertigt und fundiert sind, wird gutgeheissen – das Problem sind vielmehr unzulässige Therapieeinschränkungen durch gewisse Vertrauensärzte respektive Krankenkassen. Es geht hier um den sogenannten Eingriff ins Behandlungssetting. Was ist damit gemeint?: Gewisse Krankenkassen bewilligen nicht die vom Arzt geforderte, medizinisch notwendige Therapiefrequenz, zum Beispiel eine Sitzung pro Woche, sondern eine niedrigere Frequenz. Oder dann wird die Sitzungsdauer willkürlich eingeschränkt. Auch dies kommt einem Eingriff ins Setting gleich und steht dem Versicherer nicht zu. Im Übrigen ist die Sitzungsdauer bereits im Tarifreglement, also im Tarmed, auf maximal 75 Minuten/Sitzung limitiert. Bei den Anfragen, die unsere Kommission erhält, fällt seit ein bis zwei Jahren diesbezüglich besonders eine Krankenkasse auf. Diese Kasse versucht nicht nur über eine Einschränkung der Sitzungsfrequenz und -dauer eine Behandlung zu beeinflussen, nein, sie bewilligt auch keine Verwendung der Position «Leistung in Abwesenheit des Patienten». Diese Position ist gerade in
unserem Fach und vor allem in den kinderpsychiatrischen Therapien, bei denen die Sitzung mit dem Kind nur ein Teil der Behandlung ist, notwendig und wichtig. Kinderpsychiater müssen sehr viel Zeit aufwenden für die Therapieplanung, für Gespräche mit Lehrern, Eltern und so weiter. Sie müssen sehr viel Koordinationsarbeit leisten, was unabdingbar ist für das gute Gelingen einer Therapie. Hier sparen zu wollen ist ungeheuerlich. Jeder Franken, der in Kinder mit psychischen Erkrankungen investiert wird, ist eine Investition in die Zukunft!
Was sollte bei Ablehnung einer Kostengutsprache gemacht werden? Fulvia Rota: Dann empfehle ich, mit dem Vertrauensarzt telefonisch Kontakt aufzunehmen. Am Telefon kann man oft auf unkomplizierte Art und Weise mit dem Vertrauensarzt über den Fall reden, dabei eventuell erfahren, was seine Beweggründe für die Ablehnung der Kostengutsprache im geforderten Rahmen sind – eventuell liegt ja auch ein Missverständnis vor. Der Arzt kann seinen Behandlungsplan genauer erläutern und begründen oder allenfalls auch einen modifizierten Behandlungsvorschlag unterbreiten. Im Falle einer Einigung muss unbedingt eine schriftliche Bestätigung verlangt werden! Wenn hingegen die Kasse bei ihrer Ablehnung bleibt, kann der Patient respektive der Arzt mit Vollmacht des Patienten eine rekursfähige Verfügung verlangen. In solchen Fällen sollte sich der Arzt unbedingt an die Ständige Kommission Versicherungen der FMPP wenden, die ihm wichtige Tipps und Ratschläge geben kann.
Wäre es nicht gut, solche Grenzfälle zu vermeiden? Fulvia Rota: Selbstverständlich! Wir haben deswegen bereits vor einigen Jahren eine paritätische Kommission gebildet, in welcher je zwei Vertreter der FMPP und der SGV (Schweizerische Gesellschaft der Vertrauensärzte) Einsitz haben. In dieser Kommission werden in der Regel nicht Einzelfälle geklärt, sondern Problemfelder angeschaut und nach Möglichkeit Probleme gemeinsam gelöst, respektive suchen wir gemeinsam nach Verbesserungen und Lösungen. Diese Zusammenarbeit hat sich bisher sehr bewährt und wird, auch wenn die Kommission seit einiger Zeit bezüglich der Kostengutsprachen deutlich weniger Fragen von Mitgliedern erhält, sicher auch in Zukunft weitergeführt werden. Anders sieht es hingegen bei den Anfragen aus, die Probleme mit den Taggeldversicherern betreffen; diese nehmen von Jahr zu Jahr zu.
Was ist dort das Problem? Fulvia Rota: Es gibt verschiedene Probleme. So wird zum einen die vom Behandler attestierte Arbeitsunfähigkeit von den Versicherungen sehr oft und vor allem schon nach kurzer Zeit der Krankschreibung angezweifelt. Und dies in nicht wenigen Fällen. Die Einschätzung des Versicherungsarztes, der den Patienten meist nur einmal gesehen hat, differiert dabei sehr oft und sehr stark von derjenigen des behandelnden Arztes, der den Patienten und seine Krankheitsgeschichte, den Längsverlauf, unter Umständen schon seit Jahren, kennt. Nicht selten kommt es vor, dass die Versicherungsärzte Patienten, die noch massiv beeinträchtigt sind, vollumfänglich gesundschreiben. Teilweise mutet es an, als
2/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
31
NEUE SERIE: MEDIZIN & RECHT
TEIL 1
würden hier zwei ganz unterschiedliche Patienten beurteilt; manchmal frage ich mich, ob gewisse Versicherungsärzte im Besitz einer Kristallkugel sind, wenn sie schon Wochen im Voraus die exakte Arbeitsfähigkeit für den Tag X bestimmen können. Dabei verlaufen gerade psychische Erkrankungen sehr unterschiedlich und individuell; psychische Erkrankungen und ihre Therapie brauchen Zeit. Hingegen ist Arbeit ein wichtiges Thema, gerade auch für Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Auch wenn uns Psychiatern bewusst ist, welche zum Teil verheerende Konsequenzen eine lang dauernde Arbeitsunfähigkeit haben kann, braucht es zu diesem Thema noch viel Sensibilisierungsarbeit. Das Wissen der Psychiater ist für die Arbeitsintegration enorm wichtig und sollte für die Früherkennung von Schwierigkeiten, für den Erhalt des Arbeitsplatzes und für die Reintegrationsmassnahmen besser genutzt werden. Auch Taggeldversicherungen sind oft Anlass für viele Reklamationen: Es werden wenig sinnvolle und vor allem nicht angebrachte Fragen gestellt, deren sorgfältige Beantwortung viel Zeit in Anspruch nimmt, wobei der Aufwand nicht adäquat entlöhnt wird. Leider sind viele Psychiater zu schüchtern, um zu reklamieren, oder sie befürchten, dass sie dem Patienten schaden könnten. Wichtig ist auch in diesem Bereich, dass so viele Angaben wie nötig und so wenige wie möglich gemacht werden: Eine Anfrage muss verhältnismässig und auf eine Zeitperiode bezogen sein, und die Fragen dürfen
nur den aktuellen Fall betreffen. Dabei liegt es im Ermes-
sen des Arztes zu entscheiden, welche Informationen
für die Versicherung notwendig und zum Nutzen des
Patienten sind. Es gilt auch hier: Primum nil nocere!
Unser Vertragspartner ist der Patient, nicht die Versiche-
rung! Und es ist der behandelnde Arzt, der die Arbeits-
fähigkeit bestimmt, und nicht die Versicherung und
auch nicht der Patient! An dieser Stelle möchte ich doch
auch betonen, dass wir Psychiater mit unseren Thera-
pien grundsätzlich viel dazu beitragen, dass viele unse-
rer Patienten auch über längere Krankheitsphasen
hinweg weiterhin arbeitsfähig bleiben und ihre Arbeits-
stellen behalten können. Wenn es uns gelingt, dass un-
sere Patienten im Arbeitsprozess verbleiben können,
kann mancher Gang zur IV erspart bleiben.
G
Sehr geehrte Frau Dr. Rota, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Fulvia Rota
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH-Mitglied
Vorstand SGPP/FMPP Gämsenstrasse 11 8006 Zürich
E-Mail: frota@sunrise.ch