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«Planbarkeit und Verlässlichkeit sind in unsicheren Zeiten sehr wichtig»

Unterstützung für Patienten mit Angst und Depression

Interview mit PD Dr. Dr. Dipl. Psych. Ulrich Hemmeter, Wil

Die aufgrund der Coronakrise verordnete weitgehende Isolation trifft Patienten mit Depression oder Ängsten besonders hart, erst noch, wenn sie alleinstehend sind. Über unterstützende Massnahmen und Onlineangebote für betroffene Patienten sowie Ärzte sprachen wir mit dem Psychiater PD Dr. med. Dr. phil. Dipl. Psych. Ulrich Hemmeter.

PD Dr. med. Dr. phil. Dipl. Psych. Ulrich Hemmeter ist Chefarzt Psychiatrie St. Gallen Nord, Wil, und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression. 

Wie sehen Ihre Patientenkontakte derzeit aus? 

PD Dr. med. Dr. phil. Dipl. Psych. Ulrich Hemmeter: Aufgrund der Sicherheitsbestimmungen sind wir anstelle der ambulanten Termine weitgehend auf Telefon- und Videotherapien umgestiegen, wo das möglich ist. Das ist natürlich etwas anderes als eine Sitzung im Sprechzimmer, aber zumindest kann damit für Patienten, die sich derzeit in unserer Behandlung befinden, die Struktur aufrechterhalten werden. Auch bei Neuanmeldungen nehmen wir auf diesem Weg Kontakt auf, vor Ort finden die Konsultationen derzeit nur im Notfall oder vereinzelt für dringende Erstgespräche statt. 

Was ist mit den Menschen, die an einer psychischen Erkrankung wie Depression oder Angsterkrankung leiden und nun einfach vermehrt allein sind?

Hemmeter: In Krisensituationen muss man zwischen Patienten mit Angst und Patienten mit Depressionen unterscheiden. Bei alleinstehenden Patienten mit Depressionen, die ihre normalen Verpflichtungen im Alltag nicht mehr wahrnehmen können und darüber ihre Tagesstrukturen verlieren, besteht aufgrund der spezifischen Situation die Gefahr, dass die Depression zurückkehrt. Patienten mit Angsterkrankungen sind in solchen Situationen eher wenig beeinträchtigt. Erkenntnisse, zum Beispiel aus dem Balkankrieg, zeigten bei Angstpatienten beispielsweise weniger Panikattacken, es traten dann realere Sorgen in den Vordergrund. 

Viele und vor allem ältere Menschen in Einpersonenhaushalten, die sonst noch relativ viele Kontakte hatten und jetzt auf sich und ihre eigenen vier Wände zurückgeworfen sind, laufen Gefahr zu vereinsamen, die Tagesstruktur und den Tag-Nacht-Rhythmus zu verlieren. Ihnen kann Struktur helfen, die Zeit besser zu überstehen. Wir versuchen, insbesondere ältere Patienten aktiv telefonisch zu kontaktieren und den aufsuchenden Dienst zu stärken, den es auch vor der Zeit von Corona schon gab. Dieses Angebot wird gerade jetzt in dieser Situation besonders wichtig. 

Welche Unterstützung können Hausärzte bieten? 

Hemmeter: Bei den Patienten, die jetzt vereinsamen und in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt sind, sollte der Hausarzt daran denken, das soziale Umfeld zu aktivieren. Wo möglich, sollten Kinder oder Bekannte eingebunden werden und sich mindestens einmal am Tag beim Patienten melden. Wichtig ist, dass das regelmässig geschieht. Auch die Initialisierung einer Telefonkette kann hilfreich sein.

Wesentlich für depressive Patienten sind die Beibehaltung des Tag-Nacht-Rhythmus, die Schlafhygiene und ein körperliches Aktivierungsprogramm; auch das Erstellen eines Tages- oder Wochenprogramms ist hilfreich. Ist keine familiäre Unterstützung möglich, wäre es eine grosse Hilfe, wenn der Hausarzt oder die MPA einmal pro Woche anrufen und nachfragen könnte, wie es gehe und wie die Tage strukturiert seien. Sie sollten am besten kurz, dafür aber häufiger und regelmässig anrufen und dabei gleich schon den Anruf in der nächsten Woche ankündigen. In unsicheren Zeiten sind Planbarkeit und Verlässlichkeit für die Patienten sehr wichtig, und der Hausarzt hat hier eine zentrale Rolle.

Bei Patienten mit bestehenden psychiatrischen Erkrankungen, die nicht mehr in psychiatrischer Behandlung sind, aber jetzt eine Therapie brauchen, da die Erkrankung durch die aktuelle Belastungssituation wieder auftritt oder sich verschlechtert, sollte eine Überweisung zum Psychiater erfolgen. Es gibt viele niedergelassene Psychiater und Ambulatorien, die auch auf Telefon- oder Videoangebote umgestellt haben und mehr Zeit für Gespräche und Therapien haben als der Hausarzt. Sie können sich daher mehr und intensiver den Ängsten und Sorgen dieser Patienten widmen und so dem Auftreten einer ernsthaften Krankheitsepisode oder einer Verschlechterung vorbeugen.

«Ist keine familiäre Unterstützung möglich,
wäre es eine grosse Hilfe, wenn der Hausarzt oder die MPA einmal pro Woche anrufen und nachfragen könnten, wie es geht und
wie die Tage strukturiert sind.»

Ängste kann die aktuelle Situation auch bei Personen ohne bekannte Angsterkrankung auslösen. Wie können sich nicht prädisponierte Menschen in Zeiten wie diesen gegen zunehmende Ängste schützen? 

Hemmeter: Wenn Patienten zum Beispiel zur Testung in die Praxis kommen, sollte man sich bewusst machen, dass dahinter auch viele Ängste stecken können. Das Wichtigste ist, dass man sich authentisch verhält, die Sorgen wahr- und ernst nimmt und weder bagatellisiert noch dramatisiert. Ausserdem sollte man versuchen, die Patienten auf das Hier und Jetzt zu fokussieren, ihnen zu vermitteln, dass sie ihre Rolle in Beruf und Familie haben und diese auch in der jetzigen Zeit wichtig bleibt, auch wenn sie vorübergehend zu Hause sind. 

Man sollte ein- oder zweimal am Tag Nachrichten von einem objektiven Kanal konsumieren (nicht mehr), auf den Live-Ticker im Internet verzichten und sich auf die Alltagsaufgaben konzentrieren. Wenn zu viele Familienmitglieder auf zu engem Raum beieinander sind, ist es auch wichtig, auf persönliche Freiräume zu achten, zum Beispiel die Möglichkeit zum Rückzug in ein Zimmer. Und anstelle von Internetmeldungen zu Corona können alte Filme eine willkommene Ablenkung darstellen, auch da gibt es derzeit ein grosses Angebot.

Was können Onlineangebote leisten?

Hemmeter: Zahlreiche Studien haben eine Wirksamkeit von Onlineinterventionen zeigen können, die jedoch besser sind, wenn diese kombiniert mit einem Therapeuten durchgeführt werden. Aber nicht jedes Angebot ist seriös. Zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat die Universität Lübeck ein paar Qualitätsmerkmale für vertrauenswürdige Angebote aufgelistet. Dazu zählen zum Beispiel eine transparente Beschreibung der Therapie, der Zielgruppe und der damit einhergehenden Kosten, die Nennung mindestens einer randomisierten kontrollierten Studie über die Wirksamkeit der Methode, die Beteiligung von Fachleuten an der Entwicklung des Angebots sowie die Garantie des Datenschutzes.

Wissen Sie von Angeboten zur Entlastung von Pflegenden und Ärzten, die jetzt und in der kommenden Zeit sowohl physisch als auch psychisch einer starken Belastung ausgesetzt sein werden?

Hemmeter: Solche Angebote sind noch im Aufbau begriffen. Neben Sorgen und Ängsten ist die körperliche, vor allem aber die psychische Überlastung ein wichtiges Thema. Die Konfrontation mit Schwerkranken und Sterbenden, auch in der eigenen Familie, könnte bei uns noch relevant werden. Aus Italien gibt es zunehmend Berichte, die zeigen, wie hoch die psychische Belastung ist. 

Im Tessin wurde von der Klinik in Mendrisio im Auftrag des Krisenstabes und des Kantonsarztes eine Hotline für Mitarbeiter der Somatik organisiert und ein Angebot mit Psychologen eingerichtet, das Hilfe für Teams von Spitälern und Heimen anbietet und bereits mehrere Interventionen durchgeführt hat. 

Auch in St. Gallen gibt es ein Care-Team im Kantonsspital, das sich gerade auf die Coronasituation einstellt und ein dreistufiges Programm (stepped care concept), unter anderem mit Hilfe zur Selbsthilfe, und eine Hotline aufbaut. Es ist mit der psychologischen ersten Hilfe des Kantons und auch mit dem psychologischen Dienst unserer Klinik vernetzt. Vereinzelt liegen bereits Anfragen für ein solches Angebot vor, auch von anderen somatischen Spitälern des Kantons St. Gallen.

«Ich denke, für das Gesundheitswesen könnte sich nun auch eine Chance ergeben, indem der Wert und die Wichtigkeit unseres Gesundheitssystems «neu» erkannt wird und nicht nur die Ökonomie das Angebot bestimmt.»

Die ganze Situation stellt uns und das Gesundheitssystem vor grosse Herausforderungen, aber ich denke, für das Gesundheitswesen könnte sich nun auch eine Chance ergeben, indem der Wert und die Wichtigkeit unseres Gesundheitssystems «neu» erkannt wird und nicht nur die Ökonomie das Angebot bestimmt. So sollte es zum Beispiel beim Spitalsterben allein aus ökonomischen Gründen ein Umdenken geben, und systemrelevante Berufe, darunter auch die Gesundheitsberufe, müssen gestärkt und gut unterstützt werden. Und bei allen positiven Aspekten der Globalisierung braucht es eine gewisse regionale Stabilität in der Versorgung der Gesellschaft, die nun gestärkt werden muss. 


Therapeutische Angebote online: 
Mittlerweile stellen etliche Anbieter auch online therapeutische Angebote zur Verfügung.  Hier eine kleine Auswahl:

  • Das Programm iFightDepression, das derzeit von der Deutschen Depressionshilfe direkt für Betroffene zugänglich gemacht wird, kann dabei helfen, die Tagesstrukturen aufrechtzuerhalten. Am besten mit ergänzendem Coaching, das in diesen Zeiten auch durch den Hausarzt möglich ist.
  • Die Universität Zürich bietet unter dem Namen Paarlife während der Coronakrise Onlinetrainings und Onlinepaarcoaching gratis an.
  • PD Dr. phil. Judith Alder hat ein Selbsthilfeprogramm für den Umgang mit Belastungen und Angst durch die Coronaviruspandemie entwickelt. Hier ein Überblick über das Programm.
  • Die Plattform inCLOUsiv ermöglicht Raum für Dialoge und dringliche Fragen rund um die psychische Gesundheit während der Coronaviruspandemie. Gleichzeitig baut Pro Mente Sana wegen der grossen Nachfrage die Beratungskapazitäten aus. 

Das Interview führte Christine Mücke.