Transkript
KNIE | UPDATE VORDERES KREUZBAND | KONSERVATIV KNIE | UPDATE VOR-
PHYSIOTHERAPIE NACH VORDERER KREUZBANDRUPTUR
Update konservative Therapie und Nachbehandlung nach operativem Eingriff
Die vordere Kreuzbandruptur ist eine häufige, schwerwiegende und kostenintensive Sportverletzung. Die erfolgreiche Rehabilitation bleibt eine Herausforderung, nicht immer ist eine operative Rekonstruktion angezeigt.
Thorsten Müller, Balz W inteler
Die Ruptur des vorderen Kreuzbandes (VKB) im Knie ist eine sehr häufige, schwerwiegende und mit hohen Kosten verbundene Verletzung im Sport. Die Schweizerische Unfallstatistik UVG weist pro Jahr etwa 39 000 Knieverletzungen aus (1997–2001). Gemäss dem Bericht der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich (2009) erleidet pro Jahr ungefähr jeder 100. Einwohner der Schweiz eine solche Verletzung. Jährlich werden in der Schweiz zirka 8000 Kreuzbandoperationen durchgeführt (BFS).
DAS VORDERE KREUZBAND UND SEINE FUNKTION Das VKB stellt zusammen mit dem hinteren Kreuzband eine intraartikuläre Verbindung zwischen Femur und Tibia dar. Es besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Faserbündel. Die meisten Autoren beschreiben ein anteriomediales und ein posterolaterales Bündel. Beide sind von einem Synovialschlauch ummantelt. Durch seine Komplexität besitzt das Kreuzband eine sehr hohe Reissfestigkeit von bis zu 2400 Newton. Die Hauptfunktion des VKB ist die Führung und Stabilisierung des Kniegelenkes sowohl in statischer Position als auch bei dynamischen Bewegungen. Es verhindert die Translationsbewegung der Tibia gegenüber dem Femur nach ventral. Mit seinen Faserbündeln hat es bei der Beugung und Streckung die führende Aufgabe, das Gelenk zu zentrieren. In beiden Gelenkstellungen ist eines seiner Bündel auf Spannung. Neben seiner wichtigen mechanischen Funktion leistet das VKB auch einen sensomotorischen Beitrag zur Führung des Kniegelenkes. Über seine Mechanorezeptoren steuert es den Tonus der kniestabilisierenden Muskulatur, um auf jegliche Situation, die auf den Körper wirkt, adäquat reagieren zu können.
Anspruchsvolle Rehabilitation
Die erfolgreiche Rehabilitation des verletzten vorderen Kreuzbandes ist für den in der Orthopädie und Sportmedizin tätigen Physiotherapeuten eine anspruchsvolle Herausforderung. Nach einer Kreuzbandläsion ist eine Rückkehr in den Wettkampfsport – trotz zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse – schwierig: Von den Athleten mit einer vorderen Kreuzbandruptur sind 3,5 Jahre nach der Verletzung weniger als 50 Prozent wieder im Wettkampfsport aktiv, davon kann die Mehrheit ihr früheres sportliches Niveau nicht mehr erreichen. Die Wiederverletzungsrate nach erfolgter Kreuzbandplastik liegt bei 10 bis 20 Prozent. Durch das Fehlen des zentrierenden Stabilisators kommt es zu einem gestörten Roll-Gleit-Mechanismus. Dies hat zur Folge, dass die übrigen Kniebinnenstrukturen höher belastet werden. Ob dies zu einer vorzeitigen Gonarthrose führt, ist bis heute umstritten.
Wann reisst das Band? Wer ist gefährdet?
Zur Ruptur des vorderen Kreuzbandes kommt es, wenn die äussere Krafteinwirkung auf das Kniegelenk höher ist als die stabilisierende Kniegelenksmuskulatur. Dies geschieht in dem Augenblick, wenn der aktive Halteapparat versagt und die Krafteinwirkung die Reissfestigkeit von 2400 Newton überschreitet oder die neuronale An-
12 med & move
KNIE | UPDATE VORDERES KREUZBAND | KONSERVATIV
Die Nachbehandlung einer «Dynamischen Stabilisation nach VKB-Ruptur» wird in 5 Phasen unterteilt
Bei einer isolierten VKB-Ruptur ohne zusätzliche Verletzungen wie eine Meniskusläsion oder Knorpelschäden sehen die Phasen wie folgt aus:
Phase 1, ab Tag 1: Die Schwerpunkte der 1. Phase, präoperativ bis zum 4. Tag, sind Schwellungsabbau, Schmerzlinderung und Erlernen der selbstständigen Mobilisation. Generell sollte in dieser Phase die Aktivität auf ein Minimum reduziert werden, um ein Verkleben der Kreuzbandstümpfe zu gewährleisten. Daher wird für diese Zeit eine fixe Orthese in Extension empfohlen.
Phase 2, ab 5. Tag: In der 2. Phase steht die Beweglichkeit im Vordergrund, es wird mit aktiver Physiotherapie begonnen. Eine Extension von 0° (keine Hyperextension) sollte möglichst schnell erreicht werden, damit ein physiologisches Gangbild erzielt werden kann. Ausserdem wird mit einem Krafttraining zur neuronalen Bahnung der betroffenen Extremität begonnen, die gesamte Muskulatur der gesunden Extremitäten sowie des Rumpfes sollten in das Training miteinbezogen werden.
Phase 4, ab 6. Woche: In der 4. Phase sollte eine uneingeschränkte Bewegungskontrolle und eine seitengleiche Kraft erreicht werden. In dieser Phase übernimmt das Kreuzband wieder seine Funktion – das gegebenfalls eingebaute Ligamys-Federsystem löst sich.
Phase 5, ab 10. Woche: In der abschliessenden 5. Phase steht das sportartspezifische Training im Vordergrund. Der Schwerpunkt wird auf ein Sprung- und Lauf-ABC gesetzt, um eine optimale Stabilisierung bei Richtungswechseln und schnellen Bewegungen zu gewährleisten. Bei ambitionierten Sportlern sind drei Therapiesitzungen pro Woche nicht ausreichend, je nach Sportart ist ein Trainingsaufwand von mehreren Stunden täglich notwendig. Der Zeitpunkt der Rückkehr zum Sport sollte der Physiotherapeut mittels validen Testverfahren überprüfen. Am Institut für Physiotherapie des Inselspitals Bern überprüfen wir dies mittels einer Batterie von vier verschiedenen Sprung-(Hopp-)Tests, sowie Maximalkrafttest (3 Wiederholungen Vmax) und dem Lysholm-Score zur subjektiven Bewertung. Die Leistung der Kniefunktion wird als «Limb Symmetry Index» beurteilt.
Phase 3, ab 3. Woche: Die 3. Phase beginnt nach dem Abklingen der Entzündungszeichen im Kniegelenk. Die Schwerpunkte beziehen sich auf den Muskelaufbau unter Vollbelastung sowie in der sensomotorischen Kontrolle der verletzten Extremität.
Wann wieder Sport? Empfehlung zur Wiederaufnahme der sportlichen Aktivität: Fahrradfahren ab 6. Woche, Joggen ab 10. Woche, Skifahren sowie jegliche Stop-and-go- und Kontaktsportarten nach zirka 5 Monaten, nach erfolgreicher Absolvierung der Testbatterie.
med & move
13
KNIE | UPDATE VORDERES KREUZBAND | KONSERVATIV
THORSTEN MÜLLER, seit 1991 in der Schweiz, Fachbereich Orthopädie, seit 2007 Teamleiter Fachteam Ortho, Inselspital Bern. Seit 20 Jahren spezialisiert auf Rehabilitation des Kniegelenkes unter Prof. Jakob, Prof. Eggli, Dr. Kohl. Seit 2012 Masterstudiengang Msc. cant of Sportsphysiotherapie, Universität Salzburg.
FRIS TEN BE I OPE RATIVE N STRATEGIE N Falls die Strategie einer dynamischen intraligamentären Stabilisation verfolgt wird, sollte diese innert der ersten 21 Tage erfolgen, da durch die Frische der Verletzung noch Wachstumshormone vorhanden sind. Mit einer Ersatzplastik hingegen sollte man bis zur 6. Woche zuwarten, da sonst ein erhöhtes Arthrofibroserisiko besteht.
steuerung der muskulären Kniegelenksstabilisatoren zu langsam erfolgt. Dafür prädisponiert ist zum Beispiel der Skifahrer, der hohen Geschwindigkeiten und Ermüdung der Muskulatur ausgesetzt ist. Ausserdem weisen körperkontaktbetonte Sportarten wie Handball, Fussball und Kampfsportarten ein besonders hohes Verletzungsrisiko auf. Je nach Richtung der Krafteinwirkung und der Intensität können andere Strukturen mitverletzt werden.
Nachbehandlung der vorderen Kreuzbandruptur
Nach einer vollständigen Ruptur des vorderen Kreuzbandes kann gemäss heutigem Wissensstand keine vollständige Bandheilung stattfinden, da die Stumpfenden durch die Zerstörung des Synovialschlauches nicht miteinander vernarben können. Eine VKB-Ruptur muss nicht zwingend eine operative Versorgung zur Folge haben. Das Swiss Medical Board empfiehlt seit 2009 eine konservative Nachbehandlung.
Bei primär konservativer Therapie wird, nach Abschluss der Entzündungsphase, durch intensive Physiotherapie die Wiedererlangung einer freien Beweglichkeit des Kniegelenks angestrebt und die Oberschenkelmuskulatur auftrainiert (insbesondere der M. vastus medialis). Nach zirka 6 bis 8 Wochen erfolgt eine Neubeurteilung. Übersteigt eine Instabilität (Giving way) diesen Zeitraum, ist die Indikation für eine Operation gegeben. Auch raten wir Patienten, die auf hohem Niveau (Kontakt-)Sport mit hohem Impact betreiben, generell zu einer operativen Rekonstruktion. Das Ziel jeder Rehabilitation – mit oder ohne Operation – ist die Wiedererlangung einer nachhaltigen suffizienten muskulären Stabilisationsfunktion des Kniegelenks während Alltagsfunktionen und sportlichen Aktivitäten.
Literatur bei den Verfassern.
Kontakt: Thorsten Müller dipl. Physiotherapeut E-Mail: thorsten.mueller@insel.ch
Balz Winteler MSc, dipl. Physiotherapeut OMTsvomp® E-Mail: balz.winteler@insel.ch
Inselspital, Universitätsspital Bern www.physio.insel.ch
BALZ WINTELER ist Schwerpunktleiter Muskuloskelettal, Institut für Physiotherapie, Inselspital Bern, und zuständig für die Physiotherapieteams der Handtherapie, Orthopädie, Psychosomatik und Rheumatologie. Daneben ist er Präsident des Schweizerischen Verbands Orthopädischer Manipulativer Physiotherapie (svomp). www.svomp.ch
OP ERATI VE S TRATE GI EN UNIVERS ITÄTS KLINI K INSE L, BERN An der Universitätsklinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Inselspitals Bern – Prof. Dr. Stefan Eggli – wurde ein neues Verfahren entwickelt, bei welchem mittels einer dynamischen intraligamentären Stabilisation (DIS) versucht wird, das gerissene VKB zur Heilung zu bringen. Bisher sind ungefähr 1000 Patienten nach diesem Verfahren operiert worden. Da die Operationstechnik erst seit kurzer Zeit durchgeführt wird, liegen noch keine Langzeitergebnisse vor. Die Ergebnisse der ersten 10 Patienten werden von Prof. Eggli dargestellt. Dabei ist insbesondere der erreichte Wert des IKDC* von 98 Prozent nach 1 Jahr postoperativ vielversprechend. Dieser Wert ist einer praktisch normalen Kniefunktion gemäss und überragt damit deutlich die bekannten Referenzwerte nach einer VKB-Rekonstruktion mittels herkömmlicher Methoden. Die Autoren erklären dies damit, dass mit der neuen Technik die Stabilität optimal gewährleistet und durch das Erhalten des eigenen Kreuzbandes die physiologische Propriozeption weiterhin gegeben ist.
* Der IKDC-Score erlaubt die subjektive Beurteilung des Knies gemäss dem Internationalen Ausschuss zur Dokumentation von Knieverletzungen.
14 med & move