Transkript
EDITORIAL
Zur Ruhe kommen
Wenn man in der Lebensmitte ein erfolgreiches Berufsleben aufgibt und für einige Jahre in ein Kapuzinerkloster wechselt, steht man in Verdacht, dass man ein Burn-out hat. Das war zumindest Motivation einer Anfrage für eine Veranstaltung zum Thema Stress und Hektik. Ich habe über die Ausrichtung unseres Gästeklosters in Rapperswil erzählt: zur Ruhe kommen, Hektik und Stress im Alltag, Lebensfindung und am Rand auch Burn-out. Dies sind die Hauptmotive unserer fast 300 Gäste. Man war darüber erstaunt, dass man auch ohne Burn-out die Lebensmitte bewusst angeht und einen Kurswechsel vornimmt, bei dem man das Materielle verliert. So erzählte ich, weshalb man ein erfolgreiches berufliches Leben aufgibt und für einige Jahre in ein Kapuzinerkloster wechselt. Eine Mischung aus Klosterleben und meiner anderen Vergangenheit, die ich unbeabsichtigt sehr bewusst gelebt habe. Die Suche nach der Ausgeglichenheit war mir immer wichtig. Im Berufsleben kein Handy: Vor fünf Jahren wurde das noch belächelt, vor zwei Jahren von einigen schon bewundert, und vielleicht habe ich deswegen keine wesentlichen Termine verpasst, wurde aber sicherlich von viel Geschwätz verschont. Kein PC zu Hause: Das bedeutet, keine Arbeit vom Geschäft nach Hause zu transferieren, mit dem Effekt der klaren Trennung von Arbeit und Erholung. Jeden Morgen ein stündiger Dauerlauf im Wald: nicht nur, weil es für Körper und Geist erholend ist. Es lässt einen
auch die Veränderung der Natur und der Jahreszeiten bewusst spüren und den Tag differenzierter angehen. Im Kloster kennen wir die Gebets- und Meditationszeiten: nicht nur ein religiöser Akt. Sie geben dem Tag auch Struktur und Form. Auch in einer säkularen Gesellschaft machbar. Letztlich nehmen wir uns auch Zeit für die Mahlzeiten: Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was ich gelegentlich an der Bahnhofstrasse in Zürich sehe, wenn gestresste Geschäftsleute telefonierend auf der Strasse ihr Brötchen verdrücken. Zur Erlangung der Mitte zählt auch der Mut zum Neuanfang. Ganz einfach deshalb, weil so das Leben nie zur Routine verkommt. Auch Ihnen wünsche ich diesen Mut zum Neuaufbruch. Er muss nicht zwingend in ein Kloster führen.
Bruder Fridolin Schwitter fridolin-schwitter@bluewin.ch www.klosterrapperswil.ch
thema784
PHYTOTHERAPIE
5/2011