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Titel
Onkologie – Die Entwicklung neuer, zielgerichteter Krebstherapien läuft ungebremst weiter
Untertitel
Interview mit Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
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Rubrik
Rückblick 2019/Ausblick 2020
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Artikel-ID
43319
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Rückblick 2019/Ausblick 2020

Onkologie
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
Die Entwicklung neuer, zielgerichteter Krebstherapien läuft ungebremst weiter
Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres fanden Sie besonders spannend?
Ich erinnere mich noch ganz genau an die Pathologievorlesung im zweiten Jahr des Medizinstudiums, als uns Prof. Robert Maurer den Krebs erklärte. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Aha-Erlebnis. Das Wesen dieser Krankheit faszinierte mich. Wie kann es sein, dass eigene Zellen unseres Körpers entstehen, welche sich ausbreiten und uns schlussendlich zerstören? Diese Krankheit zog mich so sehr in den Bann, dass ich mich schon während des Medizinstudiums für Onkologie entschieden habe. Als ich zwölf Jahre später, wir schrieben das Jahr 1994, als frischgebackener OnkologieAssistenzarzt zum ersten Mal in meinem späteren Beruf tätig wurde, verfügten wir nur über eine Handvoll Zytostatika, welche allesamt empirisch entdeckt worden waren. Deren Eigenheit war es, Zellen im Moment der Mitose zu zerstören – natürlich auch zum Preis von beträchtlichen Nebenwirkungen. Und heute, ein Vierteljahrhundert später? Kaum zu glauben, wie viel sich in dieser Zeit getan hat. Jedes Jahr kommen neue Medikamente zum Einsatz, die Produkte der Grundlagenforschung sind. Wir schauen die Krebszellen nicht mehr nur unter dem Mikroskop an. Krebs ist ein Programmierfehler im Gen der betroffenen Zellen. Man konnte viele dieser Defekte entschlüsseln. Für viele Krebserkrankungen verfügen wir inzwischen über Medikamente, welche sehr gezielt den entscheidenden Gendefekt angehen können. Wir geben uns nicht mehr mit oberflächlichen Einteilungen bezüglich der Herkunft zufrieden, wie zum Beispiel mit den Bezeichnungen Lungen- oder Brustkrebs sowie simplen morphologischen Einteilungen wie Adeno- oder Plattenepithelkarzinom. Wir wollen die Gendefekte oder, anders ausgedrückt, die Programmierfehler finden, gegen die wir heute eine gezielte Therapie haben. Somit wurde die Feineinteilung der Krebskrankheit in diesen 25 Jahren dramatisch verbessert. Oft müssen wir extrem seltene Krankheiten suchen, um keine ausserordentlich wirksame Therapie zu verpassen. Diese Entwicklung ging auch 2019 ungebremst weiter. Zum einen bestätigen sich die Hoffnungen, die wir in neue gezielte Therapien setzen, und zum anderen zeigt sich auch in längeren Beobachtungszeiten, wie gross der Nutzen bereits eingeführter, neuer Behandlungen für viele Patienten ist.

Bitte nennen Sie uns ein Beispiel für solche neuen Therapien!
Dabei denke ich beispielsweise an die Therapie bei NTRK-translozierten Tumoren. Das Gen für die neurotrophe Tropomyosinrezeptorkinase kann im Falle eines «rearrangements» zu einem tumorauslösenden Rezeptor führen, den man mit den bereits erhältlichen Inhibitoren Larotrectinib oder Entrectinib sehr effektiv blockieren kann. Es gibt unabhängig von der Herkunft der Krebskrankheit eine kleine Minderheit von Patienten, deren Zellen genau diesen Defekt aufweisen, was schlussendlich ihre Tumorkrankheit auslöste. Diese Mutation findet man sehr selten bei häufigen Tumoren, wie beispielsweise beim Lungenkrebs, und sehr häufig bei seltenen Tumoren, wie beispielsweise bei gewissen Speicheldrüsentumoren. Weil der Defekt in der Krebszelle so einzigartig ist, wirken diese Inhibitoren ausgezeichnet, und das ohne viele Nebenwirkungen. Es gibt sehr viele vergleichbare Therapieansätze mit gezielten Medikamenten. So ging beim Lungenkrebs ein Teil des Fortschritts der letzten Jahre genau in diese Richtung. Schon seit einiger Zeit verfügen wir über Inhibitoren des mutierten EGFR (epidermal growth factor receptor). Liegt eine EGFR-Mutation vor, ist das oft der entscheidende Grund für die Krebskrankheit. In den letzten Jahren wurden diese Medikamente immer weiter verbessert.
Wurden 2019 in der Onkologie Medikamente oder Indikationen neu zugelassen, welche die Therapie erheblich verbessern konnten?
Seit 2019 haben wir Daten, dass der Drittgenerationsinhibitor des mutierten EGFR, Osimertinib, im Vergleich zu den älteren Medikamenten dieser Gruppe besser und spezifischer wirkt, was für die Patienten einen Überlebensvorteil und eine bessere Verträglichkeit bedeutet. Osimertinib ist heute von Swissmedic zur Behandlung beim EGFR-mutierten Bronchuskarzinom als Erstlinientherapie zugelassen. Bei der B-CLL zeigte sich 2019, dass die Hemmung des BCL2 mit Venetoclax in Kombination mit dem neueren Antikörper gegen CD20, Obinutuzumab, ausgesprochen gut wirkt. In den B-CLL-Zellen führt BCL2 quasi zur Unsterblichkeit. Blockiert man das mit Venetoclax und schlägt zudem mit dem Antikörper gegen CD20 zu, das auf der Zelloberfläche exprimiert ist, dann kann man offensichtlich diese neoplastischen Lymphozyten nachhaltig zerstören. In einer grossen randomisierten Studie der deutschen CLL-Gruppe (CLL14 Trial) wurde mit dieser Strategie ein Erfolg gefeiert, wie wir ihn kaum je gesehen haben. Zudem konnte man diese Behandlung zeitlich auf ein Jahr begrenzen, was natürlich auch zu einer Kostendämmung führt. Das bedeutet: Lieber etwas aufwendiger nur ein Jahr lang behandeln statt vermeintlich billiger über viele Jahre. Ein weiterer Erfolg im vergangenen Jahr war die Behandlung mit PARP-Inhibitoren beim BRCA-mutierten Ovarialkarzinom. 2019 wurde diese Behandlung als Erhaltung nach der ersten Chemotherapie zugelassen. Diese Inhibitoren des Ersatz-DNA-Reparatur-Mechanismus (PARP) wirken aus-

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gezeichnet bei Karzinomen mit der BRCA-Mutation, welche wegen dieser Mutation bereits einen Defekt in der DNA-Reparatur aufweisen. Vereinfacht ausgedrückt, kann sich die Zelle wegen Krankheit von Handwerker Müller nicht mehr reparieren, man blockiert mit dem PARP-Inhibitor den Handwerker Meier auch noch – und dann geht sie zugrunde. Übrigens wirkt dieses Therapieprinzip auch bei gewissen Mamma-, Prostata- und Pankreaskarzinomen. Natürlich wurden auch im Jahr 2019 wieder viele Studien zur Immuntherapie erstmals veröffentlicht. Beeindruckend sind die Langzeitdaten der ersten Studie zum Lungenkrebs mit hoher PD-L1-Expression und zum Melanom. Das Melanom war zu meinen onkologischen Anfangszeiten eine absolut tödliche Krankheit. Wir hatten nur wenige oder, ehrlich gesagt, kaum wirksame Chemotherapien zur Verfügung. Heute gibt es Patienten, die dank der Immuntherapie nach vielen Jahren progressionsfrei am Leben sind.
Werden sich Diagnose und/oder Therapie in der Hausarztpraxis dadurch künftig verändern?
Viele Patienten, die früher innert weniger Monate verstorben sind, können heute über Jahre behandelt werden, mit dem Ziel, trotz all dieser Therapien ein gutes Leben zu führen. So werden Krebspatienten sicher auch in der Hausarztpraxis zahlenmässig zunehmen – teilweise wohl auch mit sehr therapiespezifischen Beschwerden infolge von Nebenwirkungen der onkologischen Behandlung. Für mich ist eine Zusammenarbeit mit dem Hausarzt extrem wichtig, da der Patient dank seines Hausarztes auch vor Ort eine Anlaufstelle hat. Oft bin ich froh, dass sich auch ein Hausarzt beispielsweise um Hautprobleme im Rahmen von Tyrosinkinasehemmertherapien kümmert.
Was «fürchten» Sie am meisten?
Wie jedes Jahr werden wir auch gebeten, unsere Sorgen und Nöte kundzutun. Es kommt mir so vor, als legte ich an dieser

Stelle immer die gleiche Platte auf. Leider wird diese Platte

aber auch Jahr für Jahr umfangreicher.

Die Diagnostik und die Therapien werden immer komplexer,

damit verbunden auch aufwendiger, und die Kosten steigen

kontinuierlich. Ob wir dieses Problem in den Griff bekom-

men? In der Schweiz sind wir es uns gewohnt, ein hervor-

ragendes Gesundheitssystem zu haben. Wir gehen eigent-

lich alle davon aus, dass wir im Ernstfall ein Recht auf die

bestmögliche Therapie haben. Als Onkologe werde ich aber

schon heute damit konfrontiert, dass die Finanzierung einer

modernen und erwiesenermassen besseren Therapie nicht

immer gesichert ist. Dieses Problem nimmt Jahr für Jahr zu.

Unsere schrittweise Zulassung, zuerst durch Swissmedic und

dann zur Aufnahme auf die Spezialitätenliste (SL), wird in

unserem Alltag immer aufwendiger.

Onkologische Therapien, die bereits als Standardbehand-

lungen betrachtet werden, werden über Monate, wenn nicht

sogar Jahre nicht in die SL aufgenommen. Das führt zu einer

Abhängigkeit von den Krankenkassen, und dort wachsen die

Unterschiede. Im Herbst werden wir in der Laienpresse stets

mit Krankenkassenratings konfrontiert. Wo spart man am

meisten Prämien? Es wird aktiv dazu geraten, die billigsten

Kassen zu wählen. Das ist so lange gut, wie einem das Schick-

sal einer Krebskrankheit erspart bleibt. Als krebskranker

Patient findet man seine Kasse vor allem dann gut, wenn sie

auch bereit ist, eine teure onkologische Therapie zu bezah-

len. Und hier nehmen die Unterschiede zwischen den Kassen

markant zu, auch was die Länge der Bearbeitung unserer Ge-

suche anbelangt. Es ist offensichtlich, dass die Kassen mit den

tiefsten Prämien in dieser Hinsicht nicht unbedingt zu den

guten gehören. Ein Qualitäts- oder Kulanzrating der Kassen

habe ich noch in keiner Zeitschrift gesehen.

Und das meint wohl Walti: Die billigste Krankenkasse ist nur

gut für gesunde Leute.

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