Transkript
EDITORIAL
Wein trinken und auch Wein predigen
n einer für ihre kritische Haltung bekannten Medizinzeitung (ARS MEDICI übernimmt gelegentlich Beiträge daraus) erschien kürzlich ein ausführlicher Beitrag über die «Neuen oralen Antikoagulanzien» (NOAK). Besprochen und verglichen wurden die vier grossen Phase-III-Studien: RE-LY, ROCKET-AF, ARISTOTLE und ENGAGE AFTIMI 48. Das Ergebnis der Metaanalyse im Hinblick auf den Vergleich mit den klassischen Vitamin-KAntagonisten (VKA) fiel aus, wie zu erwarten: moderat zugunsten der NOAK. Konkret: Das Risiko von Thromboembolien wurde durch die NOAK etwa im gleichen Mass gesenkt wie durch VKA, aber die VKA verursachten mehr Blutungen, auch zerebrale, und das Todesrisiko war unter NOAK etwas geringer. Die Schlussfolgerung der pharmakritischen Redaktion fiel ebenfalls aus wie zu erwarten – und wie üblich: Die Vorteile der NOAK sind geringfügig, die NNT liegt etwa bei 300, es fehlen Langzeiterfahrungen (wer zu Sarkasmus neigt, könnte anfügen: wie immer bei neuen Methoden…) und die neuen Medis sind sehr viel teurer (Tageskosten in Deutschland 1 3.20 gegenüber lediglich 20 Cents plus INR-Messungen für die VKA). Die Empfehlung: Ein Wechsel von VKA auf NOAK ist nicht gerechtfertigt beziehungsweise muss (nicht sehr überraschend) individuell entschieden werden.
Immerhin werden dann doch einige klinische Situationen genannt, in denen eine «differenzielle Verordnung» überlegt werden soll und allenfalls doch die NOAK zum Einsatz kommen könnten. Zum Beispiel bei «Patientenpräferenz nach Aufklärung über Vor- und Nachteile», bei Kontraindikationen für oder Nebenwirkungen unter VKA sowie bei schlecht einstellbaren Patienten mit stark schwankenden INR-Werten. Aber grundsätzlich: NOAK sind nicht nötig. Oder: In Beziehung gesetzt zu den Vorteilen sind die Mehrkosten unverhältnismässig hoch. Es steht nicht explizit da, aber man meint es so: Die Pharmaindustrie vermarktet mal wieder einen Scheinvorteil mit der Absicht, ein altes günstiges Produkt durch ein keinen Deut besseres teureres zu ersetzen. Drei Fragen stellen sich dem kritischen Leser des kritischen Artikels. Erstens: Dürfen einzig und allein die Kosten entscheiden, welche Produkte empfohlen werden? Zweitens: Was werde ich selber mir oder meinem Partner/meiner Partnerin oder meiner Mutter verordnen, wenn ich, er oder sie beispielsweise ein Vorhofflimmern aufweise/ aufweist, das unbedingt der Thromboembolieprophylaxe, also einer Antikoagulation, bedarf? Drittens: Was würden die Autoren sich selber, ihren Partnern, ihren Vätern und Müttern verordnen, wenn sie denn ein Antikoagulans benötigten? Der Sarkast könnte eine vierte Frage anfügen: Mit welcher argumentativen Windung würden die Autoren wohl begründen, weshalb sie einem Vertreter der NOAK den Vorzug geben gegenüber einem alten Vertreter der VKA? Natürlich ist es ein Dilemma, zwischen einer Therapie mit kleinem Mehrnutzen und grossen Mehrkosten einerseits und einer altbewährten, kostengünstigen Therapie mit leicht erhöhtem Risiko wählen zu müssen, natürlich sind die Ressourcen nicht unendlich, und natürlich sind Einzelentscheidungen volkswirtschaftlich von völlig anderem Gewicht als generelle Empfehlungen, aber mal ehrlich: Was kümmert Sie das alles, wenn’s um Ihre eigene Gesundheit, den eigenen noch so kleinen Vorteil geht? Eben. Wer Wein trinkt, sollte auch Wein predigen.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 2 I 2015
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