Transkript
Helvetische Tölpel
arsenicum
K aum in Japan, fühlen wir uns ungeschlacht, unhöflich, unwissend, unkultiviert. In der Schweiz bin ich ein Durchschnittstyp, hier aber 20 cm zu gross, viele Kilos zu schwer und beschämende Zentimeter zu breit. Alle um uns herum sind grazil, graziös, gertenschlank, gestylt. Mein Körpergefühl ist gestört: Das Brünneli ist auf Kniehöhe, die Türrahmen knallen gegen meine Stirn, in die Miniatur-Zweierbank im Bus zwängen wir uns mit Gewalt. Die anderen bewegen sich in dieser Puppenstubenwelt mit präziser Choreografie. Wir ecken an. Die WC, so niedrig, dass man sich kaum setzen, geschweige denn aufstehen kann, überfordern unseren Intellekt. Sie rauschen, um Darmgeräusche zu übertönen. Man kann zwischen Bidet und Anusdusche wählen, die Strahlstärke und die Spüldauer einstellen und die WC-Brille heizen. Wie das geht, erklärt die Gebrauchsanweisung – in Kanji-, Hiragana- und Katakana-Schrift. Analphabet, der ich hier bin, probiere ich aus. Mit dem Desinfiziertuch für die WC-Brille reinige ich mein Perineum und merke am Brennen, dass dies kein Intimfeuchttüchlein war. Das heisse Tuch, das man in jedem Gastronomiebetrieb sofort nach dem Absitzen mit Gratis-Tee oder Eiswasser bekommt, drücke ich mir ins Gesicht (welches ich damit verloren habe), statt mir damit die Hände zu reinigen. Da ich die Menüs und Packungsaufschriften nicht lesen kann und die Plastikmodelle der Speisen nicht erkennen lassen, ob hier Schweinsvoressen oder Tofu serviert wird, essen wir experimentell. Aber immer exzellent. Sojamilch im Kaffee, 20 verschiedene Tofuarten, unbekannte Gemüse, rohe Fische und Muscheln, köstliche Knabbereien, ein Universum von Gebäck und Süssem. «Alle Herren haben geputzte Schuhe!», zischt meine Frau mit pädagogischen Hintergedanken. Meistens
schwarzledern. Stets Hochglanz. Alle sind im Anzug, mit Krawatte, frisiert und manikürt. Auch Taxiund der Busfahrer – die tragen zusätzlich noch weisse Baumwollhandschuhe. Littering? Gibt es nicht. Die Damen sind hochmodisch gestylt, alle dezent geschminkt. Die jungen Leute tragen Schuluniform. Oder – Mädchen – einen Lolita-ButterflyFashion-Mix. Die Burschen mit Manga-Wuschelköpfen stehen auf, wenn ein Oldie wie ich in die U-Bahn einsteigt, bieten den Sitz an. Der Kondukteur verbeugt sich, bevor er die Billetts prüft, und erneut, bevor er den Waggon verlässt. Im Lift drückt man den «Offen»-Knopf, damit die anderen ruhig aussteigen können. Kaum öffnen wir eine Landkarte oder schauen ratlos, bietet jemand Hilfe an. Überall Höflichkeit, Zuvorkommenheit, Rücksichtsnahme, Streben nach Perfektion, (Selbst-)Disziplin. Wir sind tief beeindruckt und realisieren, dass in Sachen Sauberkeit, Servicequalität und Kultiviertheit die Schweiz nicht die Nummer eins ist. Genauso wenig wie in Hightech oder Patisserie oder Hotellerie. Japan ist da weit voraus.
342 ARS MEDICI 9 ■ 2010