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Titel
Ins Schleudern geraten
Untertitel
-
Lead
Beim Aufräumen vor den Ferien schaut man sich auch die Verläufe an. Unter anderem von den 12 Patienten, die ich im letzten halben Jahr mit «Schleudertraumen» hatte. Bei den meisten handelte es sich um Auffahrunfälle, die es in sich hatten. Eine Familie wurde zwischen zwei Lastwagen eingeklemmt und von der Feuerwehr aus ihrem völlig zerquetschten Wagen geschnitten. Einer Patientin fuhr ein Porsche Targa ungebremst mit einer Geschwindigkeit von mehr als 120 km/h auf. Ein Patient, Landwirt und aus beruflichen Gründen Fahrer eines Geländewagens mit starrer Anhängerkuppelung, wundert sich noch heute, dass am Auto fast nichts zu sehen war, aber ihm der Nacken noch immer weh tut.
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Rubriken — ARSENICUM
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arsenicum
B eim Aufräumen vor den Ferien schaut man sich auch die Verläufe an. Unter anderem von den 12 Patienten, die ich im letzten halben Jahr mit «Schleudertraumen» hatte. Bei den meisten handelte es sich um Auffahrunfälle, die es in sich hatten. Eine Familie wurde zwischen zwei Lastwagen eingeklemmt und von der Feuerwehr aus ihrem völlig zerquetschten Wagen geschnitten. Einer Patientin fuhr ein Porsche Targa ungebremst mit einer Geschwindigkeit von mehr als 120 km/h auf. Ein Patient, Landwirt und aus beruflichen Gründen Fahrer eines Geländewagens mit starrer Anhängerkuppelung, wundert sich noch heute, dass am Auto fast nichts zu sehen war, aber ihm der Nacken noch immer weh tut. Was ihn aber nicht davon abhält, weiterhin in seinem Betrieb mit Grossvieh zu schuften. 8 meiner 12 Patienten arbeiteten eine Woche nach der Kollision wieder zu 100 Prozent und sind inzwischen fast oder gänzlich beschwerdefrei, die meisten ohne Therapie oder nach kurzzeitiger Einnahme von NSAR. Eine Patientin, eine ältere Hausfrau, leidet stark, doch sie hatte schon vorher psychische Probleme und chronische Leiden, seitdem ich sie kenne. Ein anderer Patient, 35 Jahre alt, als fröhlicher Partygänger bekannt, ist seit dem Unfall zu 100 Prozent AUF, nachdem ihm ein VW-Polo mit 30 km/h auffuhr, als er vor einer Ampel stand. Das einzige, wozu er jetzt noch in der Lage ist, ist weiterhin Partys zu besuchen (und zu geben ...), auf der Chilbi Karussell zu fahren, seine BMW (Motorrad, K 1200 R Sport) und seinen BMW (Auto, Z4 M Coupé) auszufahren und – neben dem Lösen von Sudokus – seinen Lieblingssportarten nachzugehen: Reiten, Flaschentauchen und Golfen. Schliesslich ist Sport gesund und hilft ihm, seine ständigen, vernichtenden Kopf- und Nackenschmerzen, seinen Tinnitus und seine neuropsychologischen Defizite, die als «nicht klar einzuordnen» bezeichnet wurden, zu ertragen. Er hat einen berühmten Anwalt beauftragt, der ein Stundenhonorar von 440 Franken nimmt und dieses vom Haftpflichtversicherer des Unfallgegners vermutlich auch bekommt. «Sie nehmen mich nicht ernst!», blökte mich dieser Patient an, als ich bei der letzten Untersuchung die gestählte Muskulatur seines sonnengebräunten Körpers bewunderte. Als alter Arzt mit überfüllter Praxis kann man sich es leisten, Klartext zu reden. «Sie schon, aber ihre Beschwerden nicht!», antwortete ich trocken. Sofort, nachdem er türenschlagend aus der Praxis gestampft war, liess ich die diversen Berichte über Abklärungen mit Bildgebung (CT, MRI, konventionelles Röntgen und Funktionsaufnahmen normal), die vielen Schreiben

über Konsultationen beim Rheumatologen (unauffällig), Neurologen (keine objektivierbaren Pathologien), Psychiater (keine psychiatrische Diagnose mit Krankheitswert) kopieren, weil ich sicher war, dass er sich nun einen anderen Arzt suchen würde. Das hat er glücklicherweise auch getan. Und ich kann mich wieder mehr meinen anderen Patienten zuwenden. Den Mitgliedern der Familie, die heute noch immer Albträume haben, wenn sie an die Situation zwischen den zwei Lastwagen zurückdenken und die nicht mehr gerne Auto fahren. Aber trotzdem ihr Leben weiterleben und der Psychologin nach 5 Sitzungen freundlich dankten und meinten, es ginge jetzt. Den Landwirt habe ich zuletzt gesehen, als ihm eine Sau fast den Finger abgebissen hatte, und er meinte, man solle seine «Bresteli» nicht überbewerten, während ich nähte. Die Porsche-Geschädigte hat kaum mehr Beschwerden und amüsiert sich, dass ihr vom Polizisten, der den Schaden aufnahm, über die Versicherungsangestellte bis hin zur Gemüsefrau jeder riet, dieses Schleudertrauma nicht auf die leichte Schulter zu nehmen (!), denn es könne schlimm ausgehen. Doch dann wird sie nachdenklich und fragt, ob noch Spätschäden auftreten könnten. Bei der Hausfrau, dieser traurigen Patientin, der im Leben wirklich alles schief lief und läuft, und die dankbar ist für ihr Schleudertrauma, welches ihrem Leiden Würde und Rechtfertigung verleiht und sie in die Reihe der Märtyrer stellt, mache ich das Gleiche wie in den letzten 30 Jahren: Ich höre mir geduldig ihre Klagen an und versuche, ein wenig zu trösten. Am Abend reibe ich mir meinen schmerzenden Nacken (2 Auffahrunfälle und 12-Stunden-Tage in der Praxis) und gehe noch ein wenig spazieren. Ich schaue mir das Plakat des Schleudertraumaverbandes an und frage mich, ob – und falls ja, wie – das mit «Spinnen» zusammenhängt. Mache mir Gedanken über unsere Morbiditätsindustrie, zu der ich auch gehöre. Über Anwaltshonorare und Ethik. Denke an die Plakate, die auf Inkontinenz, Grippe und andere Leiden hinweisen. Eigentlich braucht es niemanden, der meinen Patienten einredet, sie seien krank. Die sind nämlich krank genug bis hin zu viel zu krank. Täglich bemühe ich mich, sie ein bisschen gesünder und glücklicher zu machen. Leider habe ich damit oft keinen Erfolg. Weder die Wellnessindustrie, noch die Geschädigtenanwälte können mir helfen. Ob ich da wohl jemanden verklagen kann?

Ins Schleudern geraten

734 ARS MEDICI 17 ■ 2008