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«Immunität ist nur eine angenehme Nebenwirkung»

Hausärzte fragen Spezialisten zur COVID-19-Infektion

Hausärzte erhielten am 26. März 2020 die Gelegenheit, Prof. Philip Tarr, Co-Chefarzt Medizinische Universitätsklinik, Infektiologie und Spitalhygiene Kantonsspital Baselland, praktische Fragen zum Umgang mit COVID-19 zu stellen. Über eine vom FOMF organisierte Webkonferenz, zu der sich Hausärzte zuschalten konnten, beantwortete der Infektiologe viele Fragen zu praxisalltäglichen Aspekten. Die Fragen und Antworten haben wir hier für Sie zusammengestellt. 

Prof. Philip Tarr ist Co-Chefarzt
Medizinische Universitätsklinik,
Infektiologie und Spitalhygiene
Kantonsspital Baselland

Soll man das Praxispersonal testen?

Prof. Tarr: Asymptomatische Personen soll man nicht abstreichen, weil ein negatives Resultat keine Aussagekraft hat. Es hat einen schwachen Vorhersagewert und könnte am nächsten Tag positiv sein. Gegen eine serielle Testung alle zwei Tage ist von fachlicher Seite eigentlich nichts einzuwenden, momentan reichen die vorhandenen Testmaterialien inklusive Abstrichtupfer jedoch nicht aus, sodass die Priorität auf der Testung von symptomatischen Personen liegt. 

Rachenabstrich oder Nasenabstrich?

Prof. Tarr: Beim Testen einer symptomatischen Person ist ein Abstreichen in der Nasopharynx zielführender, weil beim Rachenabstrich je nach Technik die Möglichkeit besteht, das Virus zu verpassen. Auch Nasopharynxabstriche müssen gut gemacht sein: Einführung des Abstrichtupfers fünf bis sieben Zentimeter tief bis an die Hinterwand der Nasopharynx, etwa fünfzehn Sekunden in dieser Position den Tupfer leicht drehen, dann erst herausziehen. Bei den Rachenabstrichen muss der Abstrichtupfer bis zu den Tonsillen und der Rachenhinterwand eingeführt werden, um am richtigen Ort zu sein, was häufig einen Würgereiz hervorruft: Weil die richtige Durchführung nicht immer möglich ist, ist das Resultat des Rachenabstrichs mit Vorsicht zu geniessen.

Wann wird ein positiver Abstrich im PCR wieder negativ?

Prof. Tarr: Im Moment stellt sich die Frage für uns nicht. Gemäss Zahlen aus China kann der Abstrich etwa drei Wochen lang positiv bleiben, in Extremfällen auch bis zu 37 Tage. Doch sinkt die Virenzahl etwa eine Woche nach Symptombeginn deutlich und damit auch die Ansteckungsfähigkeit. Eine Ausnahme bilden jene Patienten in Intensivstationen mit schweren Verläufen mit Atemnot und Pneumonie, da kann die Virenzahl noch weiter ansteigen. Mit der Verbesserung der Klinik nimmt auch die Virenzahl in der Nasopharynx ab, das weiss man von der Influenza. Eine Ent-isolation braucht demnach keinen negativen Abstrich. Es genügt die Symptomfreiheit von mindestens 48 Stunden plus zehn Tage nach Symptombeginn. Die dann noch vorhandene Virenzahl gilt als zu gering, um andere Personen infizieren zu können. Zahlen zu Spezifität und Sensitivität des Tests sind noch nicht vorhanden, wichtig ist eine gute Abstrichtechnik.

Die WHO wie auch einige Epidemiologen empfehlen «testen, testen, testen …»

Prof. Tarr: Grundsätzlich einverstanden. Vor dem Hintergrund, dass die Testkapazitäten wie auch die Testutensilien momentan begrenzt sind, ist die Empfehlung des BAG aber richtig, wonach nur symptomatische Personen getestet werden. Auch ein Durchtesten des Gesundheitspersonals alle zwei Tage aufgrund der Ressourcenknappheit ist nicht machbar. Auch hier gilt: Nur wenn sie Symptome haben.

Soll man Risikopatienten mit leichten Symptomen, die man ambulant behandeln könnte, testen, oder nur, wenn eine Hospitalisation notwendig wird?

Prof. Tarr: Man sollte solche Risikopatienten eher testen aus der Sorge heraus, dass der Verlauf ungünstig sein könnte. Offiziell aber nicht testen, wenn die Symptome nur leicht sind

Besteht nach durchgemachter Infektion eine Immunität? Wenn ja, wie lange?

Prof. Tarr: Das kann man noch nicht mit Sicherheit beantworten. Doch alle Experten gehen davon aus, dass man nach durchgemachter COVID-19 Erkrankung gegen das pandemische SARS-CoV2-Virus immun wird. Ob die Immunität sechs, neun oder zwölf Monate anhält, wissen wir noch nicht. Die Experten gehen auch davon aus, dass COVID-19 hier endemisch wird und uns immer wieder infizieren könnte, so wie beispielsweise Rhinoviren, weitere Coronaviren oder Parainfluenzaviren.  

Wurden die restriktiven Massnahmen der Kantone nicht zu früh eingeführt, sodass sich letztlich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung infiziert und nach Lockerung der Massnahmen mit einer zweiten Infektionswelle zu rechnen ist?

Prof. Tarr: Das ist eine gute Frage. Die behördlichen Massnahmen in Grossbritannien zielten anfänglich darauf ab, mittels einer breiten Ansteckung in der Bevölkerung eine Herdenimmunität entstehen zu lassen. Dieser Strategie wurde wieder verlassen, weil man befürchten musste, dass ein zu grosser Teil der Bevölkerung daran schwer erkrankt. Das Phänomen der Immunität nach durchgemachter Krankheit ist allenfalls eine angenehme Nebenwirkung. Man muss alles daran setzen, die Risikogruppen vor einer schweren Erkrankung zu schützen und Verhältnisse wie in der Lombardei zu verhindern, wo Patienten, die beatmet werden müssten, wegen Überlastung des Systems keine Beatmung erhalten. 

Sind gegen Grippe geimpfte Patienten besser geschützt als solche ohne Grippeimpfung?

Prof. Tarr: Dazu gibt es meines Wissens keine Daten. Eine Grippeimpfung schützt vor einer Ansteckung mit Influenzaviren, aber nicht auf eine allgemeine Art gegen die Ansteckung mit anderen Viren.

Wer ist besonders gefährdet?

Prof. Tarr: Das sind vor allem ältere Patienten oder Patienten mit chronischen Erkrankungen. Junge gesunde Personen sind weniger betroffen und sehr selten auf der Intensivstation mit einer SARS-CoV2-Erkrankung. Wenn junge Gesunde beatmet werden müssen, kann man davon ausgehen, dass ihre Überlebenswahrscheinlichkeit grösser ist als jene von Älteren oder chronisch Erkrankten. 

Sollen alle reanimiert werden?

Prof. Tarr: Im Kantonsspital Baselland richten wir uns nach den Empfehlungen der Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften SAMW. Das heisst, beim Eintritt in die Notfallstation werden die Patienten nach ihrem Reanimationswunsch und dem Wunsch nach einer allfälligen Verlegung auf die Intensivstation gefragt. 

Welche Masken schützen das Gesundheitspersonal?

Prof. Tarr: Der beste Schutz ist mindestens 180 cm Distanz zu halten und die Hände regelmässig zu desinfizieren. Das Wartezimmer sollte so umgerüstet sein, um Abstand wahren zu können. Chirurgische Masken sind bezüglich Schutz vor SARS, pandemische H1N1 und Influenza gemäss Literatur gleich gut wie FFP2-Masken. Die Masken sollen im Kontakt mit allen Patienten immer getragen werden. Vor dem Anlegen der Maske müssen die Hände desinfiziert werden. Man muss auch aufpassen, dass man sich nicht mehr als sonst ins Gesicht fasst, weil die Maske juckt, herunterrutscht oder die Brille anläuft. Chirurgische Masken können mehrere Tage getragen werden. Über Nacht soll man sie irgendwo deponieren, wo sie nicht beschädigt werden kann, wie es beispielsweise in der Kitteltasche zusammen mit Schlüsseln passieren kann. Man muss die Maske nicht in Alkohol einlegen oder besprühen, die Viren sterben bis zum nächsten Morgen ab. 

Eine FFP2-Maske braucht es nur bei aerosol-generierenden Verrichtungen, die am besten vermieden werden. Unsere Anästhesisten bevorzugen eine niederschwellige Intubation gegenüber einer längeren nicht invasiven Beatmung, weil hier Viren aerosolisiert werden können. Feuchtinhalation beispielsweise bei COPD- oder Asthmaexazerbationen sind bei uns nicht mehr erlaubt. Stattdessen werden Dosieraerosole mit Vorschaltkammer. 

Wer soll Masken tragen?

Prof. Tarr: Gesundheitspersonal im Kontakt mit Patienten sollen sich immer mit chirurgischen Masken schützen. Gesundheitspersonal, das ungeschützt mit positiv bestätigten Patienten in Kontakt war, soll unter Befolgung einer vorbildlichen Händehygiene und regelmässigem Tragen einer chirurgischen Maske weiterarbeiten. 

Erkrankte Patienten sollen auf der Visite Masken tragen, um das Personal zu schützen.

Welche Kontakte sind gefährlich?

Prof. Tarr: Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung ist hoch, wenn der Kontakt drinnen stattgefunden hat und mindestens 15 bis 30 Minuten dauerte und die Distanz weniger als 180 cm betrug und keine chirurgische Maske getragen wurde. Flüchtige Begegnungen draussen beim Joggen sind dagegen gefahrlos.

Was nichts nützt, ist immer eine FFP2-Maske zu tragen, denn die chirurgische Maske ist ausreichend. Astronautenanzüge, Schutzbrillen und Umgebungsdesinfektionsaktionen sind ebenfalls unnötig. Tische, Türklinken, Untersuchungsliegen und Stühle sollen dagegen nach jedem Patientenbesuch desinfiziert werden. 

Die Infektionsgefahr von Viren auf Arbeitsschürzen, die so durch die Räume getragen werden, gilt als klein.

Sollen Patienten, die sich in der momentanen Erkältungs- und Heuschnupfensaison mit Schnupfen in der Praxis anmelden, in Abklärungszentren geschickt und die ganze Familie unter Quarantäne gestellt werden?

Prof. Tarr: Wichtig ist, zu beobachten, ob die Symptome schlimmer werden. Bleibt es beim leichten Erkältungs- oder Heuschnupfen oder beim leichten Husten, muss zu den vom BAG verordneten Hygiene- und Distanzmassnahmen nichts Zusätzliches unternommen werden. 

Personen im gleichen Haushalt sind ohnehin bereits angesteckt, sodass für die Familienmitglieder das gleiche gilt. Werden die Symptome schlechter, soll abgeklärt werden, ob es sich um COVID-19 handelt.

Besteht beim Gesundheitspersonal mit durchgemachter COVID-19-Infektion die Gefahr, andere Personen anzustecken?

Prof. Tarr: Kontroll-PCR werden nicht gemacht. Betroffene Mitarbeiter sollen weiterhin eine Maske tragen und die Hände vorbildlich desinfizieren, um Kollegen nicht zu infizieren. Im Vergleich zur Phase mit Fieber und starken Symptomen, in der Millionen von Viren ausgeschieden werden, besteht keine Gefahr mehr, auch wenn vielleicht noch ein paar hundert Viren pro Milliliter Nasensekret zu finden sind. Mithilfe von Antikörpertests, die in Entwicklung sind, wird es bald möglich sein, Personen zu identifizieren, die immun geworden sind und unbesorgt wieder arbeiten gehen können.

Patienten fragen häufig, ob sie Lebensmittelverpackungen nach dem Kauf desinfizieren sollen.

Prof. Tarr: Man weiss, dass das Virus auf Oberflächen für kurze Zeit überlebt. Der Hauptansteckungsweg ist aber über die Atemwege. Wenn die Distanz- und Händehygienemassnahmen befolgt werden, braucht es gegen die wenigen Viren auf Lebensmittelverpackungen keine zwanghaften Desinfektionsaktionen.

Gehören Patienten mit chronischem Asthma zur Risikogruppe?

Prof. Tarr: Ein gut eingestellter Asthmatiker gehört nicht dazu. Zwingen ihn Exazerbationen jedoch häufig in die Notfallstation, ist er nicht gut eingestellt und gehört damit zur Risikogruppe.

Warum sind die Mortalitätsraten in verschiedenen Ländern so unterschiedlich?

Prof. Tarr: Dafür gibt es noch keine gute Erklärung. Stand 25. März betrug die Mortalität in der Schweiz 1,3 Prozent, in Deutschland war sie tiefer und in Italien lag sie fast bei 10 Prozent. Möglicherweise spielt die Ressourcenknappheit im Gesundheitssystem in der Lombardei eine Rolle für die hohe Sterblichkeit. Eine fundierte Antwort auf diese Frage wird es jedoch erst nach genauen Analysen, frühestens in ein paar Monaten geben.

Ibuprofen soll gemäss Berichten den Verlauf verschlechtern. Ist es überhaupt notwendig, das Fieber zu senken?

Prof. Tarr: Bei einem bestätigten COVID-19-Fall soll das Fieber nicht routinemässig gesenkt werden. Falls nötig, das heisst bei subjektivem Leiden, Gliederschmerzen und beeinträchtigtem Allgemeinzustand, ist Paracetamol erste Wahl und Metamizol zweite Wahl. Ibuprofen soll eher nicht eingesetzt, obwohl es keine genügend guten Daten gibt, die eine Gabe bei Fieber grundsätzlich verbieten würden.

Valérie Herzog

Quelle: FOMF-WebUp vom 26. März 2020