Transkript
EDITORIAL
«Vaxxed» – Herausforderung oder Katastrophe?
Manchmal will einem scheinen, früher sei man mit dem Unterschied zwischen Fake und Wahrheit lockerer umgegangen – vielleicht weil einen die Erfahrung lehrte, dass die Unterscheidung oft gar nicht so klar ist oder je nach Zeit, Ort oder Umständen variiert. Vielleicht war die eindeutige Unterscheidung auch gar nicht so wichtig. Heute ist man empfindlicher; jeder gibt sich überzeugt, den Unterschied zwischen Wahrheit und Fake genau zu kennen. Und vergisst dabei, dass wir oft Opfer der eigenen Wünsche werden. Ausserdem zeigt sich, gerade bei den Medien, dass weniger die Fake-News das Problem sind als vielmehr die verschwiegenen News. Dass die stärkste Waffe des Journalisten nicht die Lüge, sondern das Verschweigen ist, hat Publizist und Satiriker Tucholsky schon vor 100 Jahren erkannt. «Lügenpresse» meint eben nicht Lügen, sondern ideologisch motiviertes Auslassen von Fakten. Ein Vorwurf, der allerdings selbst wieder Fake sein kann. Was das alles mit Medizin zu tun hat? Viel und Grundlegendes. Als naturwissenschaftlich gebildete Berufsleute halten wir uns an objektive Untersuchungen von möglichst vertrauenswürdigen Leuten. Nicht weil wir es «wissen», sondern weil wir auf unsere Gewährsleute vertrauen, sind wir überzeugt, dass MMR-Impfungen und Autismus nichts miteinander zu tun haben. Dieses Vertrauen können wir von Laien, denen tagtäglich Fake für Wahrheit verkauft wird,
nicht erwarten. Schauen Sie sich den Trailer des Films «Vaxxed – from Cover-Up to Catastrophe» auf YouTube an! Wissenschaftliche Laien sind chancenlos bei der Beurteilung, ob da gelogen oder eine unangenehme Wahrheit enthüllt wird. Vertrauten wir nicht auf die Informationen von Behörden und Opinionleadern, wir würden selbst unsicher. «Vaxxed» ist ein US-Propagandafilm (Premiere: April 2016 in New York), der behauptet, die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) hätten einen Zusammenhang zwischen MMR-Impfungen und Autismus vertuscht. Der Film lässt einen hochrangigen CDC-Wissenschaftler, als Whistleblower per se mit gutem Ruf, zu Wort kommen, der von Manipulationen und der Vernichtung von Daten berichtet. Regie führte Andrew Wakefield, ein Arzt und Impfgegner, dem man in England die Zulassung entzogen hatte. Seit Kurzem läuft «Vaxxed» in vorläufig zwei Schweizer Kinos. Eine Katastrophe, meinen BAG und Kollegen, deren Anliegen die 95-prozentige Durchimpfungsrate bei Masern ist. In der Tat, der Film verbreitet seine Botschaft (Masernimpfung ist schuld an Autismus) so überzeugend, dass es schwerfällt, einfach zu schweigen. Doch was tun, wenn die Kinobetreiber nicht wie in Italien freiwillig auf die Ausstrahlung verzichten? Verbieten? Ungern in einem liberalen Land, und es wäre vermutlich kontraproduktiv. Aufklären? Sicher, aber das tut man eh schon permanent. Hilft nur bedingt. Kollege Adriano Aguzzi hat eine andere Lösung: ein Impfobligatorium. Was bedeuten würde, dass nur noch geimpfte Kinder in den Kindergarten oder in die Schule aufgenommen würden. Aber ob Obligatorien die Lösung sind? Der Umgang mit Fake-News bleibt eine Herausforderung – in der Politik, wo die Unterscheidung oft unmöglich ist, wie in der Gesellschaft, wo Rezipienten mit unterschiedlichem Wissensstand, unterschiedlichen Weltanschauungen und unterschiedlichem wissenschaftlichem Verständnis aufeinandertreffen. Wir müssen wohl akzeptieren, dass wir den richtigen Weg nicht kennen. Und trotzdem «etwas» unternehmen müssen.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 12 I 2017
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